Ehrfurcht haben · Albert Schweitzer

Ehrfurcht haben · Albert Schweitzer · Kultur & Leben

In meinem Spital habe ich auch Primitive. Wenn ich von einem der nicht bettlägerigen Spitalinsassen zu verlangen genötigt bin, er möge einem Kranken, der das Bett hüten muss, mit kleinen Dienstleistungen behilflich sein, so wird er sich nur bereit zeigen, wenn der Betreffende seinem Stamm angehört.

Ist das nicht der Fall, wird er mir treuherzig antworten: »Das ist nicht mein Bruder.« Kein Überredungsversuch und keine Drohung werden ihn von seiner Weigerung abbringen, etwas so Unvorstellbares zu tun: sich für einen Fremden zu opfern. Ich muss kapitulieren.

Doch sowie der Mensch sich anschickt, über sich selbst und sein Verhalten zu den anderen nachzudenken, wird er sich auch klar darüber, dass der Mensch als solcher seinesgleichen und sein Nächster ist. Am Ende einer langen Entwicklung sieht er den Kreis seiner Verantwortlichkeit sich über den Erdball hin auf alle menschlichen Wesen erstrecken, mit denen er in Beziehung steht.

Wir müssen uns indessen gestehen, dass der Gedanke, das Menschenwesen als solches habe ein Recht auf unsere Teilnahme, niemals die uneingeschränkte Geltung besessen hat, auf die er Anspruch erheben kann. Bis in unsere Tage ist er bedroht gewesen — und ist es noch immer — von der Macht der Rassenunterschiede, des religiösen Glaubens und der nationalen Zugehörigkeit, durch die uns der Nächste zum Fremden wird, dem wir nur Gleichgültigkeit oder Misstrauen entgegenbringen.

Ein Mensch mit unverbildet gebliebener Empfindungsfähigkeit sieht es als ganz natürlich an, mit allen Lebewesen Erbarmen zu haben. Die Sorge aber um das Los aller Lebewesen, mit denen wir zu tun haben, schafft noch viel zahlreichere und erregendere Konflikte, als wenn wir unsere Opferpflicht auf menschliche Wesen beschränken.

Gegenüber den Geschöpfen der Natur geraten wir unausgesetzt in Situationen, die uns zwingen, Leiden zu verursachen und dem Leben Schaden zu tun. Wer einen hilflosen Vogel in Pflege nimmt, sieht sich genötigt, Insekten oder Fische zu töten, um ihn zu füttern.

Indem der Mensch so handelt, verhält er sich nach freiem Ermessen. Mit welchem Recht opfert er eine Vielzahl lebender Wesen, um ein einziges zu retten? Und wenn er Tiere ausrottet, die er für schädlich hält, um andere zu schützen, steht er vor der gleichen Gewissensfrage.

Es ist jedem von uns auferlegt, im Einzelfall zu entscheiden, ob wir vor der unausweichlichen Notwendigkeit stehen, Leiden zu verursachen, zu töten und uns damit abzufinden, dass wir, eben aus Notwendigkeit, schuldig werden. Die Sühne müssen wir darin suchen, dass wir keine Gelegenheit versäumen, lebendigen Wesen Hilfe zu leisten.

Wie viel weiter wären wir, wenn die Menschen über ihre Pflicht nachdenken wollten, den Kreaturen Gutes zu tun, und sich all des Bösen enthielten, das sie ihnen aus Unwissenheit zufügen. Der Kampf gegen die inhumanen Gewohnheiten und Reaktionsweisen, die noch in unsere Epoche Geltung haben, ist unserer Kultur zur Pflicht gemacht, wenn sie ihre Selbstachtung bewahren will.

Die Forderung des Mitgefühls gegenüber allen lebenden Wesen ist es, die der Sittlichkeit die letzte Vollkommenheit verleiht. Eine vollständige und befriedigende Erkenntnis der Welt ist uns nicht gegeben. Wir müssen uns auf die einfache Feststellung beschränken, dass alles in ihr Leben gleich uns selber und alles Leben Geheimnis ist.

Unsere wahre Welterkenntnis besteht darin, uns von dem Geheimnis des Seins und des Lebens ganz erfüllen zu lassen. Die unmittelbare Grundgegebenheit unseres Bewusstseins, auf die wir jedesmal wieder zurückgeleitet werden, wenn wir zu einem Verständnis unserer selbst und unserer Situation in der Welt vordringen wollen, ist: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Durch die Ehrfurcht vor dem Leben werden wir auf eine elementare, tiefe und lebendige Weise fromm.

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Autor: Albert Schweitzer

Bewertung des Redakteurs:
4

Bescheiden können nur die Menschen sein, die genug Selbstbewusstsein besitzen.

Gabriel Laub