Der Wasserbaum · Märchen

Der Wasserbaum · Märchen · Jean-Marie Gustave Le Clézio

Früher gab es auf der Erde keine Flüsse. Das einzige Wasser, das die Menschen in dem ungeheuren Wald, der die Welt bedeckte, kannten, war jenes, das vom Himmel fiel, Kwi, das Wasser des Regens, das in den Tiefen der Erde versickerte.

Die Menschen kannten damals weder Rast noch Ruhe, und wenn sie ihren Durst löschen wollten, dann mussten sie von den Blättern die Tautropfen trinken oder sich wie die Tiere zu den modrigen Pfützen in den Felsklüften begeben.

Eines Tages aber brach ein Kind auf, um nach den Quellen des Wassers zu suchen. Tagelang ging es durch den Wald, bis seine Füße blutig waren und sein Gesicht von dornigen Zweigen zerkratzt.

Eines Abends, als es sich am Fuße eines riesigen Baumes ausruhte, sah es etwas Merkwürdiges. Neben ihm marschierte eine lange Kolonne schwarzer Ameisen in Reih und Glied durch das Moos und bildete eine Straße, die aus der Tiefe des Waldes bis zu dem Baum führte.

Der kleine Junge beobachtete sie lange, ohne sich zu bewegen, weil er sie bei ihrer Arbeit nicht stören wollte. Die Ameisenkolonne verschwand unter dem Wurzelwerk des großen Baumes in einer Höhlung, die aussah, als wäre sie eine Verbindung zur Unterwelt.

Der Junge war ganz erschrocken, denn er kannte alles, was die Alten von der Welt unter der Erde erzählten, von jener Welt, in der nur Gespenster ohne Mund leben, die ihre Nahrung einatmen und das Tageslicht nie sehen.

Dann wagte er sich ganz langsam an die Öffnung her an und sah, dass die Ameisen, nachdem sie unter die Erdoberfläche gestiegen waren, mit einem Wassertropfen zwischen den Kiefern wieder herauskamen.

Eine heftige Erregung erfasste ihn und ließ ihn erzittern. Er begriff, dass er soeben den geheimen Ort entdeckt hatte, wo das gesamte Wasser des Himmels aufbewahrt wurde. Es war der große Baum Kwipo, der sich sehr hoch über die anderen Bäume des Waldes erhebt, so hoch, dass ihn bisweilen die Hand des Donnergottes trifft und mit ihren steinernen Fingernägeln zerzaust.

Doch der Baum war so groß und stark, dass der kleine Junge einsah, dass er alleine nicht an sein Ziel gelangen konnte. Er rief um Hilfe, aber er war sehr weit von den Häusern der Menschen seines Stammes entfernt, und niemand antwortete auf seinen Ruf.

Nur ein Grünspecht kam geflogen. Zusammen gruben sich das Kind und der Vogel in den Fuß des großen Baumes, der eine mit seinem Schnabel, der andere mit einer steinernen Hacke, und der Widerhall ihrer Arbeit erfüllte den Wald mit einem seltsamen Geräusch.

Dann, eines Morgens, begann der Baum Kwipo, der in seinem Fundament zerstört war, sich zu neigen. Mit einem lauten Krachen, ähnlich dem Geräusch des Donners, fiel der Baum zu Boden, und während er fiel, schauten der Junge und der Grünspecht mit erstaunten Augen zu, denn die Welt würde nun nie mehr dieselbe sein.

Aber dann sprudelten aus den Wurzeln des Baumes die Quellen, der so breite und so große Stamm wurde zum Flusslauf, und die Zweige und Blätter verloren sich im Meer.

Seit dieser Zeit kennen die Menschen das Wasser der Flüsse, und sie haben Respekt vor den Kwipo-Bäumen, die es ihnen gegeben haben, und vor den schwarzen Ameisen, die als Zeichen der vergangenen Zeit noch immer den Tropfen tragen, der zwischen ihren Kiefern funkelt.

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Autor: Jean-Marie Gustave Le Clézio

Bewertung des Redakteurs:
4


Habe Geduld mit allen Dingen, aber besonders mit dir selbst.


Francis de Sales