Ali Stern · Integration

Ali Stern · Integration · Alev Tekinay · München Tram

»Frau Lehrerin, meine Lehrerin«, ruft jemand in der überfüllten U-Bahn, während ich versuche, mich irgendwo festzuhalten. Ich schaue mich um und sehe einen jungen Mann, der mir freundlich zulächelt. Ich muss ihn kennen, er kommt mir irgendwie bekannt vor.

Die U-Bahn rast durch dunkle Irrgänge, die Luft ist stickig, die Gesichter sind neurotisch. Aber dieses Gesicht, das freundlich lächelt… Dieselben nachtschwarzen Augen, die aber nicht wie damals leuchten, die jetzt rote Ränder haben.

Das ist doch Ali, Ali Stern. Nein, das ist nicht möglich, denke ich. Ali war ein Kind, verspielt, träumerisch, heiter und fröhlich. Aber dieser junge Mann, der mich begrüßt, ist viel älter als Ali. Sein Gesichtsausdruck ist ernst und verantwortungsvoll.

Ali war ein Schüler, der Deutsch lernte. Aber dieser junge Mann ist ein Arbeiter, er trägt einen blauen Arbeitskittel und hält einen Apparat in der Hand, eine Bohrmaschine, glaube ich.

Damals:
Was ist das?
Das ist ein Schraubstock.
Hol den Hammer, bring die Feile.
Das ist eine Bohrmaschine. Wie funktioniert die?
Mit beiden Händen festhalten. Stecker rein. Auf den Knopf dürücken. Nicht »dürücken«, Ali, »drücken.« Sprich mir nach, Ali.

Heute:
Während der ersten Stunden damals im Intensivkurs wusste Ali nicht, was eine Bohrmaschine ist. Jetzt hält er aber eine in der Hand und drückt sie fest an die Brust im Menschengewühl der U-Bahn. Und der U-Bahnfahrer ruft in sein Mikrophon: Nächster Halt Marienplatz. Ausstieg bitte, Bahnsteig Rechts.

»Kennen Sie mich nicht mehr, meine Lehrerin?« fragt Ali enttäuscht.
»Ach ja, jetzt erkenne ich dich, Ali. Aber du bist so -, so, wie soll ich es sagen, du bist so verändert, Ali. Obwohl es nicht so lange her ist. Der Deutschkurs damals, wann war das?«

»Vor einem Jahr, meine Lehrerin. Im letzten Sommer.«

»Ja, ja, Ali.«

»Ich hab Sie gleich erkannt. Sie haben sich gar nicht verändert.«

Ali spricht Deutsch mit mir. Fast akzentfrei. Recht hat er auch, mit mir Deutsch zu sprechen, denn damals im Intensivkurs sprach ich mit ihm auch nur Deutsch. Es war ja Vorschrift. Das tue ich gewöhnlich mit allen meinen neuen Schülern. Jetzt besteht aber kein Grund mehr dafür.

Alis Deutschkurs ist schon längst vorbei. Vorschriften gibt es jetzt nicht mehr. Deshalb versuche ich, mit ihm in unserer Muttersprache zu reden. Ich finde es unnatürlich, wenn zwei Türken miteinander Deutsch reden. Aber Ali ist trotzig. Er gibt nicht nach. Die Fragen, die ich ihm auf türkisch stelle, beantwortet er auf deutsch.

»Hast du deine Muttersprache verlernt, Ali?« frage ich. Er lächelt schüchtern. Eine Reihe nikotingelber Zähne taucht auf. Damals rauchte Ali nicht.

»Na ja, wissen Sie«, murmelt er, »verlernt habe ich sie natürlich nicht. Aber türkische Wörter fallen mir manchmal nicht ein. Außerdem bin ich der Meinung, dass man die Sprache des Landes sprechen sollte, in dem man lebt.«

Ali hat Ansichten. Damals schon war er ein Integrationsfanatiker. Das muss man ihm lassen. Die Ausländerfeindlichkeit, über die sich die anderen Schüler so aufregten berührte Ali kaum. Er schimpfte nie mit den Gastgebern. »Das ist ihr Land«, sagte er, »man muss sich nach ihren Bestimmungen richten.«

Vielleicht war Ali der friedlichste Schüler, den ich je gehabt habe.

»Und was machst du jetzt, Ali?«
»Ich bin Arbeiter!«
»Gefällt es dir noch hier?«
»Ja, das heißt ich meine nur, damals im Deutschkurs war es viel schöner.«

Damals im Deutschkurs … Ali war erst vor einigen Wochen nach Deutschland gekommen und konnte kein Wort Deutsch, als der Intensivkurs begann. Im Fall wie viele andere, dieser Ali, der nichts anderes im Kopf hatte als so schnell wie möglich Gastarbeiter zu werden. Ein werdender Gast also, wenn alles klappte mit einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.

Ein junger Türke in den Fußstapfen seines Vaters. Ali war damals siebzehn Jahre alt. Wir hatten den neuen Intensivkurs in zwei Gruppen geteilt, weil wir homogene Klassen haben wollten: Anfänger mit wenig Deutschkenntnissen und die Anfänger mit »Null« Kenntnissen.

Die letzteren bekam ich natürlich. Manchmal habe ich es satt, bei jedem Intensivkurs bei Adam und Eva anfangen zu müssen, das deutsche Alphabet, die deutsche Aussprache, die deutsche Orthographie. Aber ich bin eben eine Türkin, und für die Schulleitung liegt der Gedanke nahe, dass ich die schwere deutsche Grammatik meinen jungen Landsleuten mit Null Kenntnissen vergleichend und besser erklären kann als die deutschen Kollegen.

Ali wurde damals meiner Klasse zugeteilt. Er war ein braver und aufmerksamer Schüler. Damals im Intensivkurs … Mai, Juni, Juli. Die Hälfte vom August. Dreieinhalb Monate lang. Tag für Tag. Auch an Wochenenden. Unterricht unter der Woche, kulturelle Veranstaltungen am Wochenende. Sommer in München. Tropisch heiß und nass, kalt und hässlich zugleich. Jeden Tag eine Portion deutsche Grammatik und an den Wochenenden eine Portion deutsche Kultur. Deutsches Museum, das Stadtmuseum, das Jugendtheater, das BMW-Museum …

Die Mädchen (im damaligen Intensivkurs waren es nur drei) saßen eng nebeneinander und weit entfernt von den Buben. Emine trug stets ein Kopftuch, die anderen zwei nicht. Sabiha hatte immer ein rotes Gesicht. Sie weinte viel. Heimweh oder Schwierigkeiten mit den Eltern? Ich bin nie dahinter gekommen, weil sie zu schüchtern war und im Gegensatz zu meinen Schülerinnen von anderen Intensivkursen mir niemals ihr Herz ausgeschüttet hat.

Meral war ein modernes Mädchen. Sie war auch viel begabter als die anderen Mädchen in Bezug auf das Thema »Anpassung«, aber am wenigsten begabt für die deutsche Aussprache. Manchmal dauerte es Minuten, bis sie »Hausaufgaben« oder »Bügeleisen« sagen konnte. Die Schwierigkeit der deutschen Grammatik hatte die anfängliche Begeisterung der Mädchen vertrieben.

Auch die Buben hatten ihr anfängliches Interesse verloren. Nur Ali nicht. Und irgendwann tauchte das Wort »Stern« auf, in der siebten Lektion, glaube ich, als ich ihnen die Bezeichnungen für Himmelskörper und Naturerscheinungen beibrachte. Und Ali sagte: »Stern, das heißt also Yildiz wie mein Familienname. Einen schönen Namen habe ich. Ali Stern.«

Er taufte sich um. Von Yildiz in Stern. Von dem Tag an unterschrieb er die Übungen und Klassenarbeiten mit dem neuen Namen: Ali Stern. (Ich habe noch diese Übungsblätter und Schularbeiten irgendwo in einer Mappe.) Und »Ali Stern« antwortete er stolz, wenn man ihn fragte: Wie heißt du?

»Nächster Halt Sendlinger Torplatz«, ruft der U-Bahnfahrer in sein Mikrophon, und ich zucke zusammen, weil ich in die Erinnerungen an den damaligen Intensivkurs versunken war. Nun kann man etwas freier atmen. Die Hälfte der Fahrgäste ist ausgestiegen. Es sind sogar Sitzplätze frei geworden. Und wir setzen uns.

»Hast du etwas von den anderen gehört?« frage ich Ali. »Sabiha weint immer noch«, erzählt er, »und Emine ist in die Türkei zurückgegangen, weil ihre Eltern sie mit einem Landsmann verheiraten wollen. Meral ist na ja. Sie kann nun die deutsche Aussprache etwas besser und lebt wie eine Deutsche. Reden wir lieber nicht über sie.«

»Und die Jungs?« möchte ich wissen. »Adnan zum Beispiel, oder Omer und Metin?«
»Adnan putzt die Toiletten am Stachus«, berichtet Ali, »Omer arbeitet auf einer Baustelle. Metin ist in die Türkei zurückgekehrt. Er will das Abitur nachholen. Und dann studieren. Was für ein verrückter Traum!«

»Und du, Ali? Du bist mit deiner Arbeit nicht zufrieden, hab ich den Eindruck.«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber«
»Wo arbeitest du?«
»In einer Fabrik. Aber dort gibt es viel Gift, wissen Sie. Und meine Augen, die tun so weh.«
»Warst du nicht beim Arzt?«
»Doch. Ich bin ja nun versichert.«
»Etwas stimmt bei dir nicht, Ali.«
»Es ist so, ich – nun – ach, ist ja auch nicht so wichtig.«

Ein achtzehnjähriger alter Mann steht vor mir, zusammengeschrumpft, schmale Schultern, nikotingelbe Zähne, ernst, sorgsam, reif, zu reif für sein Alter.

»Nächster Halt: Goetheplatz«, ertönt es wieder im U-Bahnabteil.
»Ich muss hier aussteigen«, meldet Ali, »ich muss zum Betrieb. Ich hab die Bohrmaschine reparieren lassen. Nun muss ich sie zurückbringen. Man wartet schon auf mich. Schön, dass ich Sie gesehen habe. Ich verdanke Ihnen viel. Auf Wiedersehen, meine Lehrerin.«

»Wiedersehen, Ali Stern«, flüstere ich nachdenklich. Als er diesen Namen hört, hält er inne, dreht sich um, während die U-Bahntüren aufgehen.

»Ali Stern. So nennen mich die deutschen Kollegen im Betrieb auch. Ich habe einen deutschen Namen!«

Er versucht zu lächeln. Krampfhaft. Sein achtzehn Jahre altes Gesicht zieht sich in Falten. Dann steigt er aus. Die Türen werden geschlossen. Die U-Bahn fährt weiter. Ohne Ali Stern. Aber ich rede weiter mit Ali. Ich sage ihm jetzt alles, was ich ihm während der kurzen Begegnung in der überfüllten U-Bahn nicht sagen konnte:

Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich nicht so verändern wie du, Ali. Denn ich sitze ja nicht täglich acht Stunden am Fließband wie du, ich atme auch weniger Gift als du, nur Kreidestaub, von Abgasen abgesehen. Zugegeben, auch meine Arbeit ist schwer. Oft habe ich einen trockenen Hals nach acht Stunden Unterricht, und hab meistens keine Kraft mehr, den Mund aufzumachen. Manchmal tun auch mir die Knochen weh, als ob ich Steine geschleppt hätte wie Omer auf der Baustelle.

Aber ich bin glücklich, denn ich habe euch. Und ich bin traurig wegen euch. Ihr kommt zu mir, um Deutsch zu lernen. Und ihr geht von mir, um Gastarbeiter zu werden. Das ist euer Wunsch, ich weiß. Euch zuliebe spiele ich mit.

Und am Anfang seid ihr noch Kinder, jung, verspielt, träumerisch und fröhlich. Ich gebe euch die deutsche Grammatik, ihr gebt mir eure Jugend und Hoffnungen. Ihr verdankt mir viel, ich verdanke euch mehr. Ihr macht Wandlungen durch, aber ich bleibe gleich, an der Tafel, am Tageslichtprojektor, und wiederhole dieselben Sätze wie ein Automat: Ist das eine Rohrzange? Nein, das ist keine Rohrzange, das ist ein Hammer (der Hammer, deshalb ein, die Rohrzange, deshalb eine und keine) .. .

Leb wohl, Ali Stern. Es ist für mich ein schmerzhaftes Gefühl, meinen ehemaligen Schülern zu begegnen.

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Autor: Alev Tekinay

Bewertung des Redakteurs:
4

Das erste und das letzte Werk der Liebe ist die Aufmerksamkeit.

Rochus Spieker