Das unbekannte Ziel · Hermann Kasack · Alternative Literatur
Die stählerne Rakete war von der Bodenmannschaft abgefeuert worden und sogleich den Blicken entschwunden. Nur matte Tupfen schwärzlichen Rauchs, die sich im Blau des Himmels abzeichneten, deuteten die Richtung der steilen Kurve an, in der die Bahn verlief.
Die Granate durchschnitt die Luft, einem unbekannten Ziel entgegen. Sie sollte ungemessene Fernen überwinden und an irgendeinem Ort des Erdballs einschlagen.
Vielleicht galt das leere Nichts als Ziel, ein Steppengelände oder eine Insel im Meer; vielleicht war eine große Stadt gemeint, deren Menschen in diesem Augenblick noch nichts von dem mit unheimlicher Kraft dahinsausenden Meteor ahnten.
Wie ein Silberfisch anzuschauen, flog ich, die Rakete, durch die Regionen des Äthers, schon in einer höheren Sphäre als der, in welcher Wolken die Hülle der Erde bilden. In einer Tiefe, die nicht auszuloten war, rauschten unter mir die Gefilde des Raums.
Das Stahlgehäuse, das mich umschloss, trug mich in gefrorenen Sekunden durch die Zeit. Vielmehr - die Zeit begann still zu stehen und hinter mir wie ein Luftkanal zurückzubleiben, während ich zum Augenblick der Zukunft wurde, der sich zur Gegenwart entfalten müsste, sobald das Geschoss auf Erden niederging. Ich blieb Gefangener des Fluges, Gefangener des sausenden Geschehens.
War meine Existenz der Wurf Gottes, so würde der Aufprall, dem ich unaufhaltsam wie dem Tod entgegen flog, das Opfer meines Lebens bedeuten, ein Selbstgericht im läuternden Feuer, von dem die Weisen und Dichter seit altersher wissen.
Galt ich aber den Dämonen als Gefäß, denn müsste mit der Explosion das Unheil aus der Büchse der Pandora, wie es die neuen Gift-Ingenieure zusammenbrauen, vernichtend sich über alle Welt ergießen.
Der Ausgang schien ungewiss; aber das Wagnis, das eigene Ich in ein überpersönliches Selbst zu verwandeln, bestätigte das Dasein.
Noch teilte sich mir der gläserne Zustand eines immerwährenden Steigens mit. Bald aber spürte ich, wie meine Fahrt den Zenit des Fluges überschritt. Statt in die Sonnen des Universums und ihre Sternwelten zu tauchen, bog sich der stählerne Leib der zur Person gewordenen Rakete im schrägen Winkel raumwärts nach unten, ins Irdische.
Ich fühlte den Fall in den Horizont. Schon ahnte ich die flächige Haut des Erdleibs, schon unterschied ich Umrisse von Land und Meer. Schwache Wülste markierten sich, wuchsen dem Auge allmählich zu Gebirgsketten empor. Im gleißenden Licht wurde Gletscherschnee erkennbar, die unberührte Einsamkeit der Erde.
Weiter und, wie ich spürte, immer stärker sinkend, sah ich die prallen Adern der Flüsse hervortreten, das blaue Gerinnsel der Seen. Schon teilten durch Spinnweblinien der Verkehrsstraßen die Flächen sich auf: Kleckse von dunklem Wald, von hellen Wiesen, von buntem Ackerland und verstreute Stadtklumpen.
Ich hatte das Gefühl, als ob sich das Gefälle linderte und in ein verhaltenes Schweben überging. Ich nahm Einzelheiten der sorgsam gehegten Bezirke war, in denen sich irdisches Schaffen zeigte, ich glaubte, Siedlungen, Rebhügel, bestellte Felder und Obstgärten zu erkennen.
Denn schon immer mühte sich der Mensch um ein wirksames Dasein ab. Sein Platz ist die geordnete Natur. Auch die Wohngebiete gliederten sich dem Blick durch Straßenzüge in deutliche Häuserblocks auf, Brücken und Türme zeichneten sich in der Landschaft ab, kriechende Schatten von Schienenzügen, die ich schnell überholte, glitten unter mir dahin.
Ich wusste nicht, über welchem Land ich mich befand, nicht einmal den Erdteil hätte ich anzugeben vermocht. Ich wusste nur, dass es ein Stück besiedelter Welt war, in das ich mit unaufhaltsamer Gewalt niedergelenkt wurde.
Sekundennah lag vor mir die Silhouette einer großen Stadt. Im schürfenden Sturzflug sah ich das hunderttausend Wesen Mensch mit abwehrenden Armen in die Richtung des Himmels starren, aus der mein Silberfisch näher kam, und plötzlich erkannte ich in dem Wohngefüge meinen eigenen Heimatort.
In eins verschmolzen waren Schütze und Geschoss, Wurf und Ziel, Bote und Botschaft. Meiner kaum noch mächtig, sah ich unmittelbar hinter der großen Stadt jene Anhöhe, von der ich weggeschleudert worden war. Wie denn: hatte ich den Erdball umkreist? War ich auf dem höchsten Punkt der Lebensfahrt in der Stratosphäre nach Gesetzen, die den geleugneten Wesen der Engel eigentümlich sind, unmerklich umgelenkt worden, und kehrte wie ein Bumerang an den Ausgangspunkt zurück?
Bevor ich landend aufschlug, bemerkte ich nicht unweit am Feldrand noch die Bodenmannschaft, die sich auf dem Heimweg befand. So konnte nicht viel Zeit seit dem Aufstieg vergangen sein. Die Leute wandten sich jäh um und warfen sich zu Boden. Im gleichen Pulsschlag berührte ich die Erde, die trichterförmig auseinander barst. Aus mir oder statt meiner - wer wollte das entscheiden - entfaltete sich eine ungeheure Lichtsäule.
Aus dem Pilzschirm des Rauchs stieg ein Phönix steil in die Höhe und flog in den kristallinischen Weltraum, der die Erde umgibt. Der Phönix schoss dahin wie ein Pfeil, von dem niemand sagen kann, ob ihn die Bogensehne eines Gottes oder eines Dämons entlassen hatte. Er durchschnitt die Luft, einem unbekannten Ziel entgegen, unbeirrbar und unermüdlich, ohne Illusion, aber im Glauben an die Aufgabe, und die Aufgabe war sein Flug.
Einmal wird der schwirrende Pfeil zurückkommen und mitten in die Herzen aller Menschen treffen.
Das unbekannte Ziel · Hermann Kasack · Alternative Literatur · Story
Das unbekannte Ziel - Hermann Kasack · AVENTIN Storys

Das unbekannte Ziel · Hermann Kasack · Alternative Literatur · Die stählerne Rakete war von der Bodenmannschaft abgefeuert worden.
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Autor: Hermann Kasack
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