Der Mann der nie zu spät kam

Der Mann der nie zu spät kam · Paul Maar · Pünktlichkeit

Ich will von einem Mann erzählen, der immer sehr pünktlich war. Er hieß Wilfried Kalk und war noch nie in seinem Leben zu spät gekommen. Nie zu spät in den Kindergarten, nie zu spät zur Schule, nie zu spät zur Arbeit und nie zu spät zum Zug. Der Mann war sehr stolz darauf.

Schon als Kind war Wilfried regelmäßig eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln aufgewacht. Wenn seine Mutter hereinkam, um ihn zu wecken, saß er bereits angezogen in seinem Zimmer und sagte: »Guten Morgen, Mama. Wir müssen uns beeilen«.

Jeden Werktag, wenn der Hausmeister in der Frühe gähnend über den Schulhof schlurfte, um das große Schultor aufzuschließen, stand Wilfried bereits davor.

Andere Kinder spielten nach der Schule Fußball und schauten sich auf dem Heimweg die Schaufenster an. Das tat Wilfried nie. Er rannte sofort nach Hause, um nicht zu spät zum Essen zu kommen.

Später arbeitete Wilfried in einem großen Büro in der Nachbarstadt. Er musste mit dem Zug zur Arbeit fahren. Trotzdem kam er nie zu spät. Er nahm den frühesten Zug und stand immer zwanzig Minuten vor der Abfahrt auf dem richtigen Bahnsteig.

Kein Arbeitskollege konnte sich erinnern, dass er jemals ins Büro gekommen wäre und Wilfried Kalk nicht schon an seinem Schreibtisch gesessen hätte. Der Chef stellte ihn deshalb gern als gutes Beispiel voran. 

»Die Pünktlichkeit von Herrn Kalk, die lobe ich mir«, sagte er. »Da könnte sich mancher hier eine Scheibe abschneiden«.

Deswegen sagten die Arbeitskollegen oft zu Wilfried: »Könntest du nicht wenigstens einmal zu spät kommen? Nur ein einziges Mal!«

Aber Wilfried schüttelte den Kopf und sagte: »Ich sehe nicht ein, welchen Vorteil es bringen soll, zu spät zu kommen. Ich bin mein ganzes Leben lang pünktlich gewesen«.

Wilfried verabredete sich nie mit anderen und ging nie zu einer Versammlung. »Das alles sind Gelegenheiten, bei denen man zu spät kommen könnte«, erklärte er. »Und Gefahren soll man meiden«!

Einmal glaubte ein Arbeitskollege, er habe Wilfried bei einer Unpünktlichkeit ertappt. Er saß im Kino und schaute sich die Sieben-Uhr-Vorstellung an. Da kam Wilfried während des Films herein und tastete sich im Dunkeln durch die Reihe.

»Hallo, Wilfried! Du kommst ja zu spät,« sagte der Arbeitskollege verwundert. Aber Wilfried schüttelte unwillig den Kopf und sagte: »Unsinn! Ich bin nur etwas früher gekommen, um rechtzeitig zur Neun-Uhr-Vorstellung hier zu sein«. 

Ins Kino ging Wilfried sowieso sehr selten. Lieber saß er zu Hause im Sessel und studierte den Zugfahrplan. Er kannte nicht nur alle Ankunfts und Abfahrtszeiten auswendig, sondern auch die Nummer der Züge und den richtigen Bahnsteig.

Als Wilfried fünfundzwanzig Jahre lang nie zu spät zur Arbeit gekommen war, veranstaltete der Chef ihm zu Ehren nach Dienstschluss eine Feier. Er öffnete eine Flasche Sekt und überreichte Wilfried eine Urkunde.

Es war das erste Mal, dass Wilfried Alkohol trank. Schon nach einem Glas begann er zu singen. Nach dem zweiten Glas fing er an zu schwanken, und als der Chef ihm ein drittes Glas eingegossen hatte, mussten zwei Arbeitskollegen den völlig betrunkenen Wilfried heim und ins Bett bringen.

Am nächsten Morgen wachte er nicht wie üblich eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln auf. Als der Wecker längst geläutet hatte, schlief er immer noch tief. Er erwachte erst, als ihm die Sonne ins Gesicht schien. 

Entsetzt sprang er aus dem Bett und hastete zum Bahnhof. Die Bahnhofsuhr zeigte 9 Uhr 15. Viertel nach neun, und er saß noch nicht hinter seinem Schreibtisch! Was würden die Kollegen sagen? Was der Chef! »Herr Kalk, Sie kommen zu spät, nachdem wir Ihnen erst gestern eine Urkunde überreicht haben?!«

Kopflos rannte er den Bahnsteig entlang. In seiner Hast stolperte er über einen abgestellten Koffer, kam zu nahe an die Bahnsteigkante, trat ins Leere und stürzte hinunter auf die Schienen.

Noch während des Sturzes wusste er: Alles ist aus. Dies ist der Bahnsteig vier, folglich fährt hier in diesem Augenblick der 9-Uhr-16-Zug ein, Zugnummer 1072, planmäßige Weiterfahrt 9 Uhr 21. Ich bin tot!

Er wartete eine Weile, aber nichts geschah. Und da er offensichtlich immer noch lebte, stand er verdattert auf, kletterte auf den Bahnsteig zurück und suchte einen Bahnbeamten.

Als er ihn gefunden hatte, fragte er atemlos: »Der 9-Uhr-16! Was ist mit dem 9-Uhr-16-Zug?«

»Der hat sieben Minuten Verspätung«, sagte der Beamte im Vorbeigehen.

»Verspätung«, wiederholte Wilfried und nickte begreifend.

An diesem Tag ging Wilfried überhaupt nicht ins Büro. Am nächsten Morgen kam er erst um zehn Uhr und am übernächsten um halb zwölf.

»Sind Sie krank, Herr Kalk?« fragte der Chef erstaunt.

»Nein«, sagte Wilfried. »Ich habe nur inzwischen festgestellt, dass Verspätungen manchmal recht nützlich sein können«.

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Autor: Paul Maar

Bewertung des Redakteurs:
5


Lächle, atme ein und gehe langsam.


Thích Nhất Hạnh