Anderes Dornröschen

Anderes Dornröschen · Luciano de Crescenzo · Italien Neapel

Cavaliere Sgueglia ist ein gewissenhafter Mann. Er ist sechsundvierzig Jahre alt, Junggeselle, und führt gemeinsam mit seiner Schwester, der Signora Rosa Gallucci, eine Farben- und Eisenwarenhandlung in der Via Torretta 282, nahe am Mergellina-Bahnhof.

Wie gesagt, Sgueglia ist ein gewissenhafter Mann: seit etwas zwanzig Jahren, genau seit dem Tod seines seligen Vaters, verlässt er jeden Morgen um acht Uhr zwanzig das Haus, nimmt bei Fontana einen Kaffee und ein Stück Hefegebäck zu sich und zieht Punkt neun den Rolladen seines Geschäftes in der Via Torretta hoch.

Donna Rosa taucht erst später auf, sie muss morgens zunächst ihren Ehemann, der im Rathaus arbeitet, und die drei Söhne, drei wirklich wilde Rabauken, die die Berufsschule besuchen, auf den Weg bringen.

Wenn sie dann kommt, setzt sie sich an die Kasse, ein Auge auf die Kunden und eines auf die Jungen gerichtet, damit diese nicht das ganze Geschäft ausrauben. Mein Bruder ist zu gut, sagt sie, und hat nicht gemerkt, dass man bei den himmelschreienden Preisen heute mit jedem Schraubenschlüssel, den man einbüßt, gleich fünftausend Lire verliert.

Um ein Uhr geht der Cavaliere nicht weg, er lässt nur den Rolladen fast bis zum Boden herab, dann wärmt ihm Donna Rosa auf dem Kocher im Hinterzimmer etwas zu essen, bevor sie nach Hause eilt, um ihre vier Ausgehungerten, nämlich den Ehemann und die drei Söhne, zufriedenzustellen, während der Cavaliere, der Ärmste, nun inmitten von Lackdosen, Armaturen und Rollen von Metallgittern auf einem Klappbett ein halbes Stündchen schlummert.

Punkt acht Uhr abends schließt der Cavaliere sein Geschäft und reiht sich in den Verkehr in Richtung Via Posillipo, wo er nach etwa zwanzig Minuten, kurz nachdem er die Piazza San Luigi überquert hat, in einer dunklen Seitenstraße, einer Sackgasse, hält und sein Auto parkt – einen zweifarbigen Fiat elfhundert mit umklappbaren Sitzen, mit dem er in den vier Jahren, seit er ihn hat, gut und gern zehntausend Kilometer gefahren ist.

Dann zieht er sich in sein Haus zurück. Einfachstes Abendessen, fast immer das gleiche, das er sich offensichtlich selber zubereitet, ein bisschen Fernsehen und dann ins Bett: Madonna mia, danke für heute und behüte mich auch morgen und dann Vater Sohn und Heiliger Geist und Amen.

Nun werden Sie langsam sagen, was ist denn das für eine Geschichte? Was interessiert denn uns, dass der Cavaliere Sgueglia ein gewissenhafter Mensch ist? Oh nein, sage ich: gerade die Gewissenhaftigkeit des Cavaliere spielt eine entscheidende Rolle bei der Geschichte, die ich hier erzähle.

Ja, denn Sie müssen wissen, dass alle Tage des Cavaliere Sgueglia seit fast zwanzig Jahren ohne Unterschied immer so verlaufen sind wie dieser. Nie mal ein Kinobesuch am Abend, oder was weiß ich, ein Zusammensein mit einem Freund oder Verwandten. Er bekommt keinen Besuch und geht nirgends hin.

Nur am Sonntag, jeden Sonntag um eins, geht er zum Essen zu seiner Schwester: Messe, Gebäck von Fontana, zwei Rumtörtchen, eine Cremeschnitte, eine Makrone und zwei Blätterteigstückchen, dann Il Mattino, 3 Partien auf die Schnelle mit dem Schwager, während Donna Rosa in der Küche das Essen zubereitet und danach wieder nach Hause: zweite Halbzeit im Fernsehen, Werbesendung und Sport am Sonntag.

Aber kommen wir auf unsere Geschichte zurück: letzten Donnerstag gegen halb zwei Uhr nachts, als er gerade noch im ersten Schlaf lag, wurde der Cavaliere durch unaufhörliches Telefonklingeln geweckt. Wer sollte um diese Zeit anrufen? Er steht auf und nimmt den Hörer in der Gewissheit ab, dass nur etwas Schlimmes passiert sein konnte.

Und in der Tat hört er von seinem Schwager, dass seine Schwester, also Donna Rosa, plötzlich erkrankt sei: sie habe furchtbare Bauchschmerzen bekommen und der Ehemann habe sie ins Loretto-Krankenhaus gebracht, von wo er jetzt anrufe und wo sie mit größter Wahrscheinlichkeit am Blinddarm operiert werde, sobald der Professor eintreffe.

Der Cavaliere sagt: »Ich ziehe mich nur schnell an und komme sofort.« Noch immer halb schlaftrunken zieht er irgend etwas über, verlässt das Haus und geht die kleine Gasse hinauf, wo er seinen Fiat abgestellt hat, aber er findet ihn nicht. Das heißt, um es genau zu sagen, er sieht genau an der Stelle, wo er sein Auto geparkt hatte, ein anderes Auto stehen, das mit einer dunklen Plane bedeckt ist.

Der Cavaliere, der immer noch nicht ganz klar denken kann, sieht es sich zuerst einmal von allen Seiten an und hebt dann ganz vorsichtig einen Zipfel der Plane, und da merkt er dann zu seinem größten Erstaunen, Jesus Maria, er wird doch nicht träumen, dass unter der Plane tatsächlich sein eigenes Auto steht und dass in dem Auto seelenruhig ein Mann schläft.

Das ging jetzt nämlich schon seit fast drei Jahre so, dass Gennaro Esposito, ein Arbeitsloser, sich jeden Abend um halb zwölf in den Fiat des Cavaliere Sgueglia zurückzog. Und da er die regelmäßigen Gewohnheiten Sgueglias kannte, beschränkte sich Gennaro auch nicht etwa darauf, die Sitze umzuklappen und sich hinzulegen, sondern er zog aus einem großen Koffer, den er danach im Kofferraum verwahrte, auch alles, was er brauchte, um sich ein richtiges »Bett« zu bereiten:

Kissen, Decken, Betttücher und einen Wecker, den er aufs Armaturenbrett legte. Den Wecker stellte er auf halb sieben, da Gennaro gern früh aufsteht, um diese Zeit erhob er sich dann und begann, das Wageninnere wieder in Ordnung zu bringen. Er hatte sogar einen kleinen Besen dabei, um eventuelle Spuren seiner Gegenwart zu beseitigen.

Na ja, ehrlich gesagt, etwas ließ er doch in dem Wagen zurück, und zwar seinen persönlichen Geruch, aber der Cavaliere hatte sich in all den Jahren an diesen Geruch des Gennaro Esposito gewöhnt, ja er hatte in von Anfang an für den typischen Fiat-Geruch gehalten.

Aber zurück zu unsere berühmten Nacht: der Cavaliere steht also sprachlos vor Verwunderung da und betrachtet Gennaro Esposito, arbeitslos und ohne festen Wohnsitz. Na Gott, ohne festen Wohnsitz ist ja vielleicht nicht ganz richtig, denn in Wirklichkeit hatte Gennaro ja einen festen Wohnsitz, nämlich den Fiat elfhundert des Cavaliere Sgueglia mit der Nummer NA 294082.

Nachdem er sich über diese Tatsache klar geworden ist, weckt der höchst erstaunte Cavaliere Gennaro mit einem Schrei. Gennaro, noch halb schlaftrunken und mehr erstaunt als der Cavaliere, fragt mit Recht:

»Aber Cavaliere, was machen Sie denn hier mitten in der Nacht auf der Straße?«
»Meiner Schwester geht es schlecht, und sie musste ins Krankenhaus.«
»Wer? Donna Rosa? Aber, was hat sie denn?«
»Und Sie, wer sind Sie eigentlich? Was machen Sie hier in meinem Auto? Wer hat Ihnen…«

»Oh, jetzt überlegen Sie doch nicht lange, wer ich bin, sagen Sie mir lieber, denn ich mache mir wirklich Sorgen: Was hat denn Donna Rosa? Wo fehlt es ihr denn?«
»Ich weiß es auch nicht genau. Wenn ich richtig verstanden habe, ist es der Blinddarm. Aber wer sind Sie und wer hat Ihnen erlaubt…«

»Lieber Cavaliere, verlieren Sie doch jetzt keine Zeit mit dem Hin und Her, wer ich bin oder nicht bin. Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, ich habe nur hin und wieder Ihre Gastfreundschaft beansprucht. Kümmern wir uns jetzt lieber um Donna Rosa, der es schlecht geht! Wohin, sagten Sie, wurde sie gebracht?«

»Ins Loretto-Krankenhaus.«
»Bestens. Ich komme mit.«
»Was heißt, Sie kommen mit. Ich verstehe nicht.«
»Cavaliere, Sie sind jetzt ein bisschen durcheinander, das ist verständlich: So mitten aus dem Schlaf gerissen, und dann machen Sie sich ja auch zu Recht Sorgen. Aber keine Angst, Gennaro ist zur Stelle und lässt Sie nicht im Stich. Ich fühle mich ja doch auch zur Familie gehörig, wenn Sie gestatten.«
»Wieso denn zur Familie?«
»Aber gewiss, lieber Cavaliere, ich muss Sie begleiten!«

So verbrachten der Cavaliere und Gennaro die Nacht gemeinsam im Loretto-Krankenhaus. Gennaros Gegenwart war sehr tröstlich, und der Cavaliere stellte ihn als einen »Mitbewohner« der Via Posillipo vor. Sie entschieden gemeinsam, welchem Chirurgen der Blinddarm Donna Rosas anvertraut werden sollte und warteten gemeinsam bangend auf den glücklichen Ausgang des Eingriffs.

Beim Abschied ließ sich der Cavaliere bei den imaginären Kindern Gennaros versprechen, dass sein Auto künftig nicht mehr als Schlafzimmer missbraucht werden sollte. Zur Sicherheit und trotz aller feierlichen Schwüre aber hat der Cavaliere jetzt seinen Elfhunderter verkauft und sich ein Coupé angeschafft.

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Autor: Luciano de Crescenzo

Bewertung des Redakteurs:
4

Stetes Pflichtbewusstsein ist die wahre Krone des Charakters.

Samuel Smiles