Die Vogeltante · Susanne Kilian · Menschen Leben und Tod
Marion sitzt direkt unter dem Fenster an ihrem Tisch und macht Hausaufgaben. Es ist so die Zeit: nach dem Mittagessen, ab zwei bis ungefähr vier, halb fünf, je nachdem.
Manchmal guckt Marion durchs Fenster in den trüben, grauen November Nachmittag. Und ab drei Uhr guckt sie immer öfter hoch, rüber zu dem Balkon vom Altersheim. Der liegt genau in ihrem Blickfeld. Die bunten Blumenkästen haben sie längst reingebracht. Der Balkon ist leer und glänzt dunkel vor Feuchtigkeit.
Das ist jetzt schon der zweite Tag, wo sie nicht kommt. Sie, das ist die alte Frau aus dem Heim drüben. Marion nennt sie heimlich für sich «die Vogeltante». Jeden Nachmittag im Herbst und Winter füttert sie die Vögel. Das läuft Tag für Tag gleich ab: Irgendwann zwischen drei und vier, immer zwischen drei und vier, nie früher und nie später, geht drüben die Balkontür auf. Eine dicke, alte Frau, auf zwei Stöcke gestützt, sie hat jedesmal Schwierigkeiten, entweder mit den Stöcken oder mit der Türklinke, watschelt auf den Balkon.
An ihrem unförmigen, dicken Körper hängen, krumm und nach innen gebogen, die Beine, als würden sie sich biegen unter dem Gewicht. Watscheln ist eigentlich ein lustiges Wort, aber Marion fällt kein anderes ein, das so genau den Gang der Frau beschreiben könnte. Aber es sieht nicht lustig aus, wie sie geht. Kein bisschen. Eher sehr beschwerlich.
Zuerst läuft die Frau auf dem Balkon hin und her. Langsam. Ganz langsam. Wie das Pendel einer riesigen Uhr. Hin-tick, nach links; her-tack, nach rechts. Nach einer Weile bleibt sie stehen. Direkt am Geländer. Sie hängt ihre beiden Stöcke daran und stützt sich darauf, hält sich fest und lässt sich vor, zurück, vor, zurück schaukeln. Dann lehnt sie nur noch vorn mit dem Bauch gegen das Geländer, lässt es los und kramt mit den Händen in ihren Manteltaschen.
Marion hat sie noch nie in einem anderen Mantel gesehen: schwarz, oben ein kleiner Pelzkragen, mit drei riesigen, glänzenden Knöpfen zugeknöpft. Und so altmodisch! Und nie hat Marion sie etwas anderes aus der Tasche rausholen sehn als die rote Plastiktüte. Sachte wird sie aufgewickelt. Ein Stück Brot kommt zum Vorschein. Stückchen für Stückchen wird es mit zittrigen, runzligen Händen zerkrümelt und fliegt in eine aufgeregt flatternde, nickende, pickende Vogelversammlung.
Tauben und Spatzen zanken sich um das Brot. Und die Alte hört mittendrin auf und schaut ihnen zu. Dann verteilt sie sehr langsam und bedächtig die letzten Krümel. Das rote Plastiksäckchen wird zurückgesteckt. Jetzt läuft alles wieder genauso ab wie vorher, nur so, als liefe nun der Film rückwärts: Die Vogeltante steckt den Beutel ein. Schaukelt vor, zurück am Geländer. Nimmt die Stöcke wieder. Läuft hin, her, hin. Und geht vom Balkon, wobei sie wieder Schwierigkeiten mit der Tür hat.
Und heute ist sie nicht da! Marion schaut nicht jeden Tag so genau nach ihr. Bloß wenn sie Langeweile hat, guckt sie ihr die ganze Zeit zu. Dann überlegt sie, ob die Frau wohl Kinder hat? Und wie viele? Wo die wohl wohnen? Ob sie überhaupt verheiratet war? Sicher war sie früher mal nicht so dick. Und vielleicht ein sehr schönes junges Mädchen. Bestimmt war sie mal so alt wie Marion, zehn. Und ein winziges Baby war sie auch mal. Jetzt ist sie dick und alt und ganz allein da auf dem Balkon.
Marion kann sich richtig vorstellen, wie sie beim Frühstück ihr Brot in das Plastiksäckchen schiebt. Bestimmt verstohlen und heimlich. Und wahrscheinlich lächelt sie ein bisschen dabei, weil sie daran denkt, wie sich am Nachmittag die Vögel drum streiten werden.
Vielleicht ist sie bloß krank. In einer Woche oder zwei, drei Wochen bei alten Leuten dauert das ja immer länger, denkt Marion, da wird sie wieder drüben stehen. Aber vier Wochen vergehen, sechs, acht.
Früher hat Marion nicht jeden Tag auf die Frau gewartet. Sie hat einfach nur gesehen, wie sie drüben stand, so, wie sie einen Bus oder einen Zug sehen würde, der an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit täglich eine Stunde steht.
Jetzt wartet Marion. Die Vogeltante fehlt ihr. Sie hatte sich an ihren Anblick, an ihr Dasein gewöhnt. Und die Vogeltante hatte zu ihrer Umgebung gehört, ohne dass sie es richtig gemerkt hatte.
Nach einem Vierteljahr wartete Marion nicht mehr. Die Frau war nicht krank gewesen. Sie war gestorben. Hinter den Fensterscheiben drüben im Altersheim hatte Marion schon eine Neue gesehen. Zwischen den anderen, die sie wie die Vogeltante nur vom Ansehen kannte. Die Neue fiel durch ihr schneeweißes Haar besonders auf.
Marion würde die Vogeltante nie mehr sehen. Da erst fiel ihr ein, dass sie nicht mal wusste, wie die Frau geheißen hat. Keinen Namen wusste sie. Nie hatte sie ein Wort mit ihr gesprochen. Noch nicht mal zugewinkt hatte sie ihr. Dabei war es ihr jetzt, als wäre etwas, was sie sehr lieb hatte, fortgegangen.
Sie dachte, die Frau mit den schneeweißen Haaren wird auch sterben. Sie sind alle bis zum Tod da drüben. Keine geht einfach so weg. Und immer kommen andere nach.
Es war das erste Mal, dass sie zum Altersheim rüber guckte und so was dachte.
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Autor: Susanne Kilian
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Jeder Gedanke und jeder Atemzug ist ein Gedanke und Atemzug der im Bewusstsein stattfindet. Wir sind selbst dieses Bewusstsein.
Mooji