Die Schildkröte im Brunnen · Fabel aus dem Orient
Es war ein großer Garten,
Hatt‘ einen reichen Herrn,
Der drin hielt aller Arten
Gewächs‘ und Tiere gern.
Es taten Quellen springen,
Und schöne Bäume blühn,
Und bunte Vögel gingen
Lustwandeln durch das Grün.
Der Pfau sprach zum Raben:
Dein rotes Stiefelein
Sollt‘ ich am Fuße haben;
Es muss verwechselt sein.
Als uns der Herr gewogen
Hervorrief aus der Nacht,
Hast du dir’s angezogen,
Mir war es zugedacht.
Ich nahm von schwarzem Leder
Hier dieses aus Versehn;
Es passt zu deiner Feder,
Zu meines will’s nicht stehn.
So passt nur mein Gefieder
Zum roten Stiefelein;
Gib mir, was mein ist, wieder,
Und nimm zurück, was dein!
Der Rabe sprach dagegen:
Ein Irrtum ist geschehn,
Doch nicht der Stiefel wegen,
Am Kleid liegt das Versehn;
Denn einsehn muss ein jeder:
Es passt ein buntes Kleid,
Und keine schwarze Feder,
Zu diesem Fußgeschmeid´.
Als uns der Herr erweckte
Vom Schlaf mit seiner Hand,
War ich betäubt und steckte
Mein Haupt durch dein Gewand;
So strecktest du das deine
Aus meines Röckleins Zier:
Gib mir zurück das meine,
Und nimm das deine dir! –
Ihr Streit war ungeschieden,
Da hob ihr leises Ohr
Aus eines Brunnens Frieden
Die Schildkröte empor;
Sie sprach mit ernsten Tönen,
Und jene horchten gern:
Was wollt ihr hadernd höhnen
Die Weisheit eures Herrn?
Es tat der Herr, der Meister,
Nur was ihm billig schien;
Nicht einem seiner Geister
Hat alles er verliehn.
Er hat sein Gut verteilet
Zu vieler Pfründner Glück;
Und was im Garten weilet,
Ein jedes hat ein Stück.
Dem Pfauen, sich zu brüsten,
Hat er gestickt das Kleid,
Dem Raben nach Gelüsten
Geschmückt das Fußgeschmeid‘.
Und wem hat er gegeben
Ein ungeschmücktes Sein,
Der dank‘ ihm auch das Leben,
Das sei sein Schmuck allein.
Die Schildkröte im Brunnen · Fabel aus dem Orient
Mit Bewusstsein lässt sich bewusst das Sein verändern.
Aventin