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14 · Objektivierung des Geistes

Objektivierung des Geistes · Alltagspsychologie · Leben

Mit der Komplizierung des Lebens hängt jene weitere Emanzipationstendenz des Geistes eng zusammen, die ich ob ihrer Bedeutung gesondert behandle und als Objektivierung es Geistes bezeichne.

Wir hoben früher hervor, dass alles natürliche Wahrnehmung, Vorstellen und Denken nur im Dienst der Triebe vor sich geht, dass die Seele nur das wahrnimmt oder denkt, was für die Erhaltung oder Entfaltung des Lebens unmittelbar notwendig ist.

Indessen ist es für das Leben auch wertvoll, dass wir ihnen auch eine dauernde, vom Erlebtwerden unabhängige Existenz zuschreiben, sie also nicht bloß als subjektive, sondern auch als objektive Tatbestände erkennen, das heißt sie vom Subjekt gewissermaßen loslösen.

Die Außenwelt ist nicht bloß Inhalt unseres Erlebens, sondern Wirklichkeit, das heißt Gegenstand unseres Wirkens.

Diese Objektivierung der Erlebnisinhalte zur objektiven Wirklichkeit ist von hoher Lebensbedeutung, auch wenn sich damit das Erkennen vom unmittelbaren Lebensbedürfnis loslöst.

Das objektive Erkennen ist gleichsam ein Erkennen auf Vorrat, die Erkenntnis sind nicht mehr unmittelbares Lebensziel, sondern sind »Mittel« zu eventuellen Vitalhandlungen und als solche überaus wichtig.

Soweit als ist der Zusammenhang mit der Vitalität noch gewahrt, er lockert sich jedoch immer mehr, indem das Wissen zum Selbstzweck gemacht wird. Man sucht das Wissen nicht mehr um seiner lebensfördernden Wirkung willen, sondern man ordnet es dem Leben über, man lebt, um zu wissen und zu erkennen, mag dies Wissen und Erkennen auch für das Leben wertlos sein.

Mehr noch, man macht die Vorstellungen und Begriffe, die ursprünglich Hilfsmittel im Dienst des Lebens waren, zu objektiven Wesenheiten, denen man eine eigene Existenz zuschreibt. Die Gefahren dieser Emanzipation des Geistes werden wir später behandeln, wenn wir das soziale Leben betrachten.

Komplizierung und Objektivierung werden jedoch nur dadurch möglich, dass eine Verschiebung der Lustgefühle eintritt, die jene objektivierten Mittel wieder an das Subjekt knüpft.

Wir haben früher gesehen, dass ursprünglich die Lust nur dort eintritt, wo ein Trieb erfüllt wird. Wir müssen nun hinzu fügen, dass auch dort Lust eintreten kann, wenn die Trieberfüllung bloß vorgestellt wird, und die Lust kann dann auf die Vorstellung gleichsam übergehen, irradiieren, wie die Psychologen sagen.

Auf diese Weise kann auch das Mittel, mag es auch keine unmittelbare Befriedigung bringen, einen Lustcharakter erhalten; dieser hat sich gleichsam auf das Mittel verschoben und verleiht ihm die Kraft, selbst Zweck zu werden, denn der Zweck ist eine lustbetonte Vorstellung.

Habe ich zum Beispiel Durst, so kann das Geld in meiner Tasche diesen zwar nicht unmittelbar stillen; indem ich mir aber ausmale, welche angenehmen Getränke ich dafür in der nächsten Bar erstehen kann, strahlt die Lust von dem vorgestellten Genuss auf das Geld über, das Geld selbst erscheint lustbetont und erhält so die Macht, selbst Zweck zu werden, auch ohne dass ich mir eine Umsetzung in Vitalwerte konkret ausmale.

Indem die Lustgefühle so imstande sind, auch bloßen Mitteln den Charakter vitaler Werte zu verleihen, ist die Lustverschiebung selbst vital wertvoll, obwohl das bereits eine gewisse Emanzipation des Bewusstseins vom Leben ist.

Indem jedoch die Verbindung mit der Vitalität sich immer mehr lockert, indem die Lustgefühle auch auf Gegenstände irradiieren, die vital gleichgültig, ja schädlich sind, pervertiert sich der Tatbestand, man sucht die Lust, wo man sie zufällig findet, ohne Kontrolle auf ihren Lebenswert, die Lust selbst wird Sinn des Lebens, nicht mehr die Lust als Anzeichen lebensförderlicher Vorgänge.

Diese Loslösung des Lustbewusstsein vom Lebensuntergrund nenne ich Hedonisierung, zu deutsch Verlüstelung des Lebens, der gemäß man die Gegenstände des Erlebens nicht mehr um ihrer Lebensbedeutung, sondern nur noch um ihres Lusttons willen sucht.

Wir sahen als Sinn alles gesunden Gefühlslebens, dass es ein Anzeichen ist für wohl angepassten Lebensablauf, sobald uns eine Speise dann wohl schmeckt, wenn sie dem Körper gesund ist, und widerlich wird, wenn sie ihn schädigen würde.

Dass wir eine Frau oder einen Mann schön und begehrenswert finden, wenn der natürliche Instinkt uns sagt, dass sie gesunde Nachkommen verheißen oder die Familie beschützen. Dass wir gefährliche und schädliche Dinge meiden, weil sie uns schädigen und bedrohen.

Diese natürliche Instinkt-Kundgebung jedoch wird im Lauf der Kultur vielfach verwirrt, ja oft ins Gegenteil umgebogen.

Man lernst es, die Lust um ihrer selbst willen suchen, ja in solchen Formen, die ihr durch Beimischung von Unlust einen pikanten, prickelnden, raffinierten Charakter geben, so dass sich das natürlich Gefühl abstumpft und nur noch solche Raffinements gesucht werden.

Daher die Übertreibung üppiger Diners, bei denen der Appetit künstlich durch scharfe Gewürze oder andere Mittel gereizt wird, so dass Reizungen und Befriedigungen erzeugt werden, die weit abliegen von der Stillung der für den Organismus nötigen Bedürfnisse.

Daher die Pervertierung des Schönheitsgefühls in der geschlechtlichen Anziehung, dass gerade Frauen von krankhaftem Aussehen, solche mit bleichem Teint und knabenhafter Schlankheit am begehrenswertesten scheinen. Daher die Einstellung des Lebens auf die bequeme billige Lust, das Vergnügen, das die Sinne kitzelt und aufpeitscht.

Wir sehen also, dass eine gewissen Emanzipation des Geistes als Komplizierung, Objektivierung und Lustverschiebung durchaus im Sinn des sich entfaltenden Lebens liegt, dass es eine große Erweiterung und Bereicherung des Lebens bedeutet, wenn der Geist über die unmittelbaren Lebensbedürfnisse hinaus sich ausdehnt und dass in dieser Erweiterung des Machtbereichs über die unmittelbaren Lebensbedürfnisse hinaus die Übermacht des menschlichen Denkens über das tierische Seelenleben beruht.

Aber zugleich muss auf die Gefahren hingewiesen werden, die durch zu weit getriebene Emanzipation des Bewusstseins vom Lebensuntergrund entsteht, die die Natur in zu Unnatur übersteigerte Zivilisation verkehren, die überkomplizierte, objektivierte, hedonistische Zwecke dem Leben überordnen und dadurch jenen Zwiespalt heraufführen, der uns später als die Krisis unserer Zeitepoche beschäftigen wird.

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Autor: R.M.F

Bewertung des Redakteurs:
4

Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch Vernachlässigung kleiner Dinge.

Wilhelm Busch