Die Eidechse und der Hirsch

Die Eidechse und der Hirsch · Aesop Fabel · Bescheidenheit

Zwei Eidechsen sonnten sich auf einer alten Mauer. Die eine döste halb schlafend in der Hitze, die zweite suchte mit ihrer langen Zunge nach den tanzenden Mücken zu haschen, als sie einen Hirsch aus dem nahen Wald treten sah.

Die Eidechse vergaß sofort ihr Mückenmahl und bewunderte nur noch den schönen großen Hirsch, seine königliche Haltung und sein machtvolles Geweih.

Beim Anblick des schönen Tieres haderte die Eidechse jetzt mit ihrem Schicksal, wurde sehr unzufrieden und fing zu klagen an. »Wie schrecklich ist doch unser Dasein als Eidechsen«, sagte sie zu ihrem Freund. »Wir leben, das ist richtig, aber das ist auch schon alles. Niemand beachtet uns und niemand bemerkt uns. Wäre ich doch als Hirsch geboren worden!«

Aber die Eidechse wurde jäh in ihrem Gespräch unterbrochen. Eine wilde Meute von Wölfen stürzte aus dem Wald hervor, der Hirsch floh, aber schon hing einer der Raubtiere an seiner Kehle; er fiel und wurde getötet.

Die zweite Eidechse sagte darauf: »Willst du noch immer mit diesem Hirsch tauschen? Oder bist du jetzt froh, eine kleine unscheinbare Eidechse zu sein? Wer einen hohen Rang hat, hat auch viele Feinde. Bescheiden und unbemerkt von der Welt zu leben, hat sicherlich auch seinen Vorteil, glaube mir!«

Und die zweite Eidechse schloss wieder die Augen und döste weiter in der heißen Mittagssonne. Die erste Eidechse aber war sehr nachdenklich und schweigsam geworden. Sie schluckte eine Fliege, die sich zu nahe an sie herangewagt hatte, und fühlte sich plötzlich ganz recht zufrieden mit ihrem Schicksal.

Die Eidechse blieb mit ihrem Freund auf der Mauer sitzen und war auch zufrieden mit dem Mahl der Fliege und dachte bei sich: »Keine Neider und keine Feinde – ist auch sehr gut!«

Die Eidechse und der Hirsch · Aesop Fabel · Bescheidenheit und Zufriedenheit

Sich der Unbewusstheit des Lebens bewusst zu sein, ist die älteste Pflicht unserer menschlichen Intelligenz.

Fernando Pessoa