Ausprägung der Physiognomie

Ausprägung der Physiognomie · R.M.F · Alltagspsychologie 

Ausprägung der Physiognomie – Der Körper ist nicht nur einem Barometer gleich, der alle vorüberhuschenden Schwankungen des Seelenlebens anzeigt. Er ist mehr, er ist auch ein Registrierapparat, der dauernd festhält, was an Stürmen oder leichten Brisen über die Seele hinzieht.

Daher kommt es auch, dass wir nicht nur den augenblicklichen Wetterstand des Gemüts in der Physiognomik erkennen, sondern auch das Gesamtklima, das heißt die dauernden Verfassungen der Seele.

Es ist der Geist, der sich den Körper baut, nicht nur den gattungshaften Körper, sondern auch den individuellen. Wie der Morphologe aus der Gestalt eines Berges dessen Geschichte abliest, so kann der Seelenkundige aus den Runzeln und Prägungen eines Gesichts die Geschichte des Individuums ablesen.

Jedem Menschen ist mit wunderbar feinem Griffel seine Vergangenheit ins Antlitz geschrieben, restlos lesbar, freilich nur einem göttlich allwissenden Auge, aber auch für Menschenaugen, wenigstens in großen Linien, enträtselbar.

Morphologie des Menschenantlitzes:

Versuchen wir kurz der Morphologie des Menschenantlitzes nachzugehen! Meist kommt der Mensch mit der Anlage zu bestimmten Zügen, die Erbgut seiner Ahnen sind, zur Welt, wobei keineswegs gesagt ist, dass dieses Erbgut mit seinem individuellen Charakter ganz übereinstimmt.

Einerlei jedoch, ob die unablässig spielende Dramatik der Seele ein irgendwie vorgeformtes oder ein nur ganz allgemein typisches Gesicht, charakterlos wie die Köpfe der Mannequins in Modeläden, als Modellierblock vorfindet: sie arbeitet unablässig an seiner Ausgestaltung, wie Wetter und Klima an einem Berg, den vulkanische Kräfte als regelmäßigen Kegel aus dem Erdinnern hervor trieben.

Wie dort ein einzelner Regen abläuft, ohne grob sichtbare Spuren zu hinterlassen, so zieht das einzelne gütige oder hämische Lächeln ohne wahrnehmbare Spuren über das Angesicht: aber wie regelmäßig fallende Gewitter bald die Wetterseite des Berges in starken Rillen und Tobeln ausnagen, so hinterlässt ein oft wiederholtes gütiges oder hämisches Lächeln deutlich sichtbare Spuren.

Wie ein einmal gefaltetes Tuch ohne Spur dieser Faltung bleibt, wie jedoch stetig wiederholte gleiche Faltung die innere Struktur des Gewebes so verändern kann, dass es sich zuletzt beinahe »von selbst« in diese Falten legt, so ist, was hier am toten Material geschieht, beim lebenden Körper noch viel rascher und entschiedener zu bemerken.

Mneme – Erinnerung:

Auch der Leib hat seine »Mneme« wie der Geist, ja es ist dieselbe Mneme, dasselbe unbewusste Erinnerungsvermögen, das in beiden wirkt. Aber es ist nicht bloß ein negativer, zerstörender Vorgang wie beim Berg oder beim Tuch; es sind auch positive, aufbauende Kräfte heimlich am Werk.

Jedes viel geübte Organ wird stärker, weil der Nahrungsstrom sich in die so beanspruchten Zellen voller ergießt: so werden auch die Gewebe und Muskeln viel geübter Gesichtspartien besser geübt und kräftiger modelliert. So also geschieht es auf ganz natürliche Weise, dass die Züge des Gesichts, ja die Gestalt des ganzen Körpers zum stationären, dauernden Ausdruck der Seele werden.

Die Haltungen, Gesten, Mienen werden konstitutionell, werden, ohne dass das Individuum es merkt, Charakteristika, das heißt Merkmale seines Charakters.

Habitus:

Daher ist es auch möglich, nicht nur die vorübergehenden Stimmungen, sondern den dauernden Charakter aus dem Äußern des Menschen abzulesen. Schon der gesamte Körperbau ist »charakteristisch« in des Wortes wörtlichem Sinn. Die Ärzte sprechen z.B. vom Habitus des Melancholikers, des Maniakalischen.

Man kann ebenso vom Habitus jedes seelischen Typus sprechen. Die Gewohnheit, den Kopf stolz empor zu recken und die Brust selbstbewusst auszudehnen, gibt dem Leib des hochgemuten Menschen ebenso dauernde Formen, wie die Gewohnheit des depressiven Menschen, in sich zusammen zu kriechen und gedrückt durchs Leben zu schleichen, dem Körper sich als Dauerform einverleibt.

Die Gewohnheit des hämischen Lachens, bei dem sich die Mundfalten eigentümlich verzerren, schreibt sich dauernd in die Züge des spottlustigen Menschen ein, ebenso wie das milde Lächeln der gütigen Seele ihre Spuren im Gesicht hinterlässt.

Insofern aber der Körper alle dauernden Zustände der Seele auch zu dauerndem Ausdruck bringt, können sogar einzelne »Erlebnisse« dem Menschen ins Antlitz geschrieben sein, sofern sie nur dauernd in der Seele nachwirken.

Die Gewissensangst ob einer bösen Tat, die oft dem Bewusstsein nicht einmal gegenwärtig ist, das heißt verdrängte Rachsucht oder Verbitterung ob einer schmerzlichen Zurücksetzung, können dauernden Ausdruck in der Physiognomik finden.

Wüssten die Menschen, wie verräterisch ihre Züge sind, wären sie überzeugt, dass ihre Nächsten bessere Beobachter wären, als sie in Wirklichkeit sind. Sie würden sich hüten, alle die hässlichen Gedanken und Regungen in ihrer Seele aufkommen zu lassen, die sie ungestraft dulden zu können glauben.

Die Beherrschung, die unsere Gesellschaft in Bezug auf grobe Äußerlichkeiten fordert, würde zur tieferen innerlichen Angelegenheit werden.

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Autor: R.M.F

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Das Bewusstsein der Geschöpfe ist durch das Atemholen bedingt.

Zhuangzi