Die Quelle der Weisheit

Die Quelle der Weisheit · Märchen · Wahrheit und Erkenntnis

Vor undenklichen Zeiten, als die Menschheit noch jung war, gab es einen Mann, der als sehr weise galt, denn es war ihm gelungen, sehr alt zu werden.

Das war damals wirklich etwas Besonderes. Er hatte alle giftigen Pflanzen gekannt, sich von keinem wilden Tier fressen lassen und war mit allen seinen Feinden fertig geworden.

In seinen jungen Jahren hatte er eine gute Frau gefunden und sechs stattliche Kinder aufgezogen. Jeden Tag war er hinaus gegangen, um den Wind und die Sterne zu beobachten, und so hatte er im Laufe seines Lebens gewaltige Dinge erkannt.

Nun war er, wie gesagt, alt und weise, und die Menschen kamen zu ihm, um sich von ihm einen Rat geben zu lassen. Da er so viel wusste, waren ihm viele Dinge überhaupt nicht wunderbar oder erstaunlich, sondern sie waren für ihn ganz selbstverständlich. So gab er meistens auch einen guten Rat, und die Leute verbreiteten seinen Ruhm in die ganze Welt.

Eines Tages, als er auf dem Weg zu dem Berg war, auf dem er immer nachdachte, sah er in der Ferne etwas auf dem Boden liegen. Er hielt sich die Hand über die Augen, denn er konnte schon eine Zeit lang nicht mehr recht gut sehen.

Doch nein, er irrte sich nicht, da lag etwas, das wie ein Kasten aussah. Rüstig schritt er darauf zu und hob es auf. Es war ein mächtiges Buch mit einer sonderlichen Schrift. Der alte Mann wunderte sich sehr und sah sich suchend um, wer es wohl hier hingelegt haben könnte. Da er aber niemanden sah, schickte er den Dank für seinen Fund in den Himmel und hoffte, von dort werde es wohl den Richtigen schon erreichen.

Oben auf dem Gipfel begann er sogleich in dem Buch zu lesen. Es machte ihm recht Mühe, die wunderliche Schrift zu entziffern, aber bald war ihm der Sinn ganz klar, und er ging wieder hinunter zu den Menschen und erzählte ihnen, was er gelesen hatte.

Und so hielt er es von nun an. Immer, wenn die Sonne sank, versammelten sich die Menschen ehrfurchtsvoll am Fuße des Berges und erwarteten ihren Weisen und seine heiligen Lehren, die er wieder mit herunterbringen würde. So ging es Tag für Tag, und die Menschen hielten die Lehren in Ehren und den alten Mann für heilig, weil er so viel göttliches Wissen zu bringen wusste.

So ging es lange Zeit, und als der alte Mann gestorben war, errichteten sie ihm ein mächtiges Grab. Sie weinten und klagten, denn nun war ihnen die Quelle der Weisheit verstummt, und das Buch konnten sie nirgends finden, denn der alte Mann hatte es vor unberufenen Händen auf dem Gipfel des Berges unter einem Stein verborgen.

Dort hatte er es jeden Abend versteckt und am Morgen wieder hervor geholt. Als er ans Sterben kam, hatte er keine Kraft mehr, den Jüngeren genau zu erklären, wo sie das Buch finden konnten.

Die Menschen waren nun alle sehr traurig, denn sie hatten den weisen alten Mann nicht mehr und das Buch auch nicht. Aber sie hatten noch ihre Erinnerungen, und so erzählten sie ihren Kindern auch alles, was sie von dem alten Mann gehört hatten. Sie erzählten es ganz genau, und einer erzählte es dem anderen und der Vater dem Sohn und die Mutter der Tochter.

Der alte Mann hatte aber den Menschen ein Zeichen gemacht, dass sie auf dem Berg suchen sollten, obwohl er nicht mehr sprechen konnte in seiner zunehmenden Schwäche. Und so kam es, dass eine Gruppe tapferer Männer sich auf die Suche machte. Sie hatten sich nicht viel Zeit genommen, den weiteren Erzählungen zu lauschen, sondern stiegen rüstig auf den Berg des Alten.

Endlich, nach langer Zeit, gelangte einer an den Ort, wo das Buch verborgen war, und er hob es aus seinem Versteck. Erwartungsvoll schlug er es auf und war sehr verwundert und erstaunt ob der sonderlichen Schrift. Er las und las, aber, bis er den Sinn erkannt hatte, da war es auch schon Abend geworden, und er musste wieder zurück. Da besann er sich, ob er das Buch mit hinunternehmen oder wieder in seinem Versteck verbergen solle.

»Es wird genügen«, sagte er zu sich, »wenn ich den Menschen von dem glücklichen Fund erzähle und ihnen sage, was ich darin gelesen habe.« Und er machte sich unbeschwert an den Abstieg.

Daheim erzählte er, dass er das Buch entdeckt habe und berichtete, was er darin geschrieben fand. Da aber lachten alle über ihn und riefen ihre ältesten Lehrer herbei, dass sie dem Entdecker sagten, was wirklich in dem Buch geschrieben stand, was sie so getreulich alle gelernt und gelehrt hatten.

Das klang nun allerdings ganz anders, und es gab einige, die ihren Lehrern glaubten und andere, die dem glaubten, der den Berg erstiegen und selbst in dem Buch gelesen hatte.

Dann stieg ein Dritter hinauf, der den Streit schlichten wollte, der nun ausgebrochen war, und als er an die Stelle kam, an der der Alte vor Zeiten das Buch gefunden hatte, sah er auf dem Weg etwas wunderbar funkeln. Er bückte sich und hob einen merkwürdigen runden weißen Stein auf, der in der Sonne glitzerte und funkelte und ganz durchsichtig war.

Als er ihn andächtig auf seine Hand legte und betrachtet, konnte er sich vor Staunen nicht fassen, denn er sah eine Landschaft mit Furchen und Rinnen, die alle hellbraun waren und nirgends Wasser führten. Lange konnte er sich das Wunder nicht erklären, aber er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle Fragen zuvor zu beantworten, ehe er seinen Weg fortsetzte und Neues entdeckte.

So blieb er stehen, wo er war und schob den Stein in seiner Hand hin und her und überlegte, wie er wohl hinter das Geheimnis mit der braunen Landschaft kommen könne. Da bemerkte er, dass es ja seine eigene Hand war, die er durch den Stein erblickte, nur viel größer, viel genauer und schärfer als mit seinen beiden Augen.

Froh, das Geheimnis des wunderbaren Steins entdeckt zu haben, sah er sich suchend um, wer dieses wundervolle Stück wohl hier hingelegt haben mochte. Da er aber niemanden sah, schickte er den Dank für seinen Fund in den Himmel und hoffte, von dort werde er wohl den Richtigen schon erreichen.

Erfreut und zufrieden, dass er das Problem gelöst hatte, steckte er den Stein sorgfältig in die Tasche und setzte seinen Weg fort. Als er nun an den Ort gelangte, wo das Buch verborgen war, zog er es hervor und begann darin zu lesen.

Auch er fand die Zeichen recht wunderlich, und was ihn am meisten irritierte, war der Umstand, dass er weder die Stelle finden konnte, von der der alte Mann immer erzählt hatte, noch jene, die der Bergsteiger vor ihm gelesen hatte! Welche Seite er auch aufschlug, er bekam stets eine andere Wahrheit zu Gesicht.

Wieder hielt er inne und dachte nach. Er vergrub die Hände in den Taschen, denn es war kalt auf der Höhe. Dabei stieß er in der Tasche gegen den Stein, den er auf dem Weg gefunden hatte und noch immer bei sich trug. Sogleich erinnerte er sich an dessen Eigenschaft, alles zu klären, was er bedeckte.

Er zog den Stein hervor und legte ihn auf die wunderliche Schrift, mitten auf der Seite, die er gerade aufgeschlagen hatte. Da war mit einem Mal die Schrift überhaupt nicht mehr wunderlich und undeutlich, sondern klar und rein lag die Wahrheit vor ihm, und er erkannte sie deutlich. Das war der Schlüssel, und da er nun alles lesen konnte, wurde ihm auch der ganze Sinn der Schrift offenbar.

»Wahrlich«, sagte er laut über die Felsen des Gipfels hin, »solange wir nicht den wundervollen Stein haben, der alles Kleine vergrößert und alles Große wie einen kleinen Käfer zwischen die Zeilen führt und zu lesen lehrt, solange werden wir nicht wissen, was Wahrheit ist und werden sie nicht kennen, solange wir auch nach ihr suchen.«

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Autor: N. N.

Bewertung des Redakteurs:
4

Um das Göttliche kennenzulernen, muss man es aus sich zum Bewusstsein bringen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel