Der Bienenstock mit dem Bastdeckel · Leo Tolstoi · Story
Drohnenversion:
Die erste Version der Geschichte vom Bienenstock mit dem Bastdeckel stammt vom Drohnen-Historiografen Prupru; die zweite wurde von einer der Arbeitsbienen verfasst.
Die von dem Drohnen-Historiografen verfasste Geschichte vom Bienenstock mit dem Bastdeckel beginnt mit einer Aufzeichnung der benutzten Unterlagen und Quellen. In dieser Aufzeichnung sind folgende Unterlagen und Quellen genannt:
Die Memoiren berühmter Drohnen; der Briefwechsel Seiner Hoheit des Drohnenhäuptlings Debe des Älteren mit Seiner Durchlaucht Kuku dem Jüngeren; das Tagebuch der Hoffouriere; mündliche Überlieferungen, Lieder und Romanzen der Drohnen; die Akten der zwischen Drohnen und Arbeitsbienen geführten Straf- und Zivilprozessen; Reisebeschreibungen von Käfern, Mücken und Drohnen fremder Bienenstöcke; statistische Angaben über die Menge des in den verschiedenen Lebensperioden des Bienenstocks erzeugten Honigs.
Der Historiograf Prupru greift in seiner Geschichte vom Bienenstock mit dem Bastdeckel auf die Zeit des erstmaligen Ausschwärmens der Bienen und des Erscheinens der ersten Drohnen zurück. Nach der Darstellung Pruprus ist die Zeitspanne vom 6. Juni bis zum Petri-Pauls-Tag die Blütezeit vom Bienenstock mit dem Bastdeckel gewesen.
Die Macht und der Reichtum des Bienenstocks zogen in dieser Zeit die Aufmerksamkeit aller anderen Bienenstöcke auf sich, erregten den Neid der Nachbarn und bildeten einen Anziehungspunkt für viele berühmte Besucher. Der Bienenstock stand unter der persönlichen Schirmherrschaft des Großvaters Anissim.
Zu dieser Zeit wurde in sämtlichen Bienenstöcken, und so auch in dem Bienenstock mit dem Bastdeckel, emsig gearbeitet, doch zeichnete der sich vor allen anderen dadurch aus, dass er als erster die Drohnen zur Welt gebracht hatte, die sowohl durch ihre inneren Verwaltungsmaßnahmen als auch auswärtigen Beziehungen seinen Ruhm ausmachten.
Es gab immer und gibt heute noch viele Bienenstöcke ohne historische Bedeutung; die Bienen verbringen darin ihr Dasein, ohne sich selbst dessen bewusst zu sein, sie leben und sterben, von der Weltöffentlichkeit unbeachtet.
Ganz anders lagen die Dinge bei dem Bienenstock mit dem Bastdeckel. Um zwei Uhr nachmittags, während die Arbeitsbienen wie üblich gleich Lasttieren ihre nie aufhörende niedere Arbeit verrichteten und Honig und Blütenstaub für die Kinder heranschafften, unternahmen die Drohnen ihren ersten Ausflug ins Freie.
Alle, die einem solchen Ausflug beiwohnten, versichern übereinstimmend, dass die Welt noch nie zuvor ein großartigeres Schauspiel gesehen habe. Die großen schwarzen, samtweichen Drohnen, eine immer prächtiger als die andere, kamen aus dem Flugloch geschlüpft, flogen indessen nicht, wie es gewöhnliche Bienen tun, sofort über den Zaun hinweg in den Wald und auf die Wiesen, um Nahrung zu sammeln, sondern sie stiegen in die Lüfte auf, beschriebenen einen Kreis und schwebten wie Adler über den Bienenstöcken.
Dieses Schauspiel machte durch seine Erhabenheit einen so überwältigenden Eindruck, dass niemand es mit ansehen konnte, ohne Tränen der Rührung in den Augen zu haben – besonders dann, wenn er sich dabei die tiefe Bedeutung des Vorgangs vergegenwärtigte.
Sobald die Drohnen den Bienenstock verlassen hatten, begann eine jede von ihnen ihre Ansicht über die Aufgaben der Staatsleitung sowie hinsichtlich der an ihr vorzunehmenden Änderungen und Verbesserungen auszuposaunen. Dabei richteten die Versammelten ihr Augenmerk vornehmlich auf die Arbeitsmethoden und die Tätigkeit der gewöhnlichen Bienen, die nach dem übereinstimmenden Urteil aller unbefriedigend war und einer Korrektur und Anleitung bedurfte.
Die Versammelten verteilten untereinander die verschiedenen Verwaltungsgebiete und erörterten auch gleich die Maßnahmen, die dazu führen sollten, die Tätigkeit der Arbeitsbienen ertragreicher zu gestalten. Auch wählte man sofort die obersten Befehlshaber, ihre Gehilfen und Gehilfen für die Gehilfen: Zensoren für Moral, Behüter der Ordnung und Sittlichkeit, Richter, Priester, Dichter und Begutachter, wobei zugleich für alle entsprechende Gehälter und Gratifikationen festgesetzt wurden.
Nach der einmütigen Meinung der Wähler wie auch der Gewählten waren lauter außergewöhnlich hervorragende Drohnen gewählt worden. Es waren durchwegs Leuchten der Wissenschaft, auserlesene Geistesgrößen, die jener Epoche den unauslöschlichen Stempel ihrer Erhabenheit aufdrückten.
Laut summend, kreisten sie lange über den Bienenstöcken und stießen die Arbeitsbienen zur Seite, die nach Nahrung ausflogen und sich gar nicht der ganzen Bedeutung dessen bewusst waren, was alles für sie getan wurde. Ja, viele undankbare Bienen wussten all das Gute, was man ihretwegen unternahm, absolut nicht zu würdigen und äußerten sich in der Unterhaltung miteinander sogar abfällig über das Wirken der Drohnen.
Am nächsten Tag begannen die Drohnen mit der Ausübung ihrer Obliegenheiten. Äußerlich gesehen, hätte man meinen können, dass sie nichts anderes taten als sonst. Doch das erschien nur jenen so, die nichts davon verstanden. In Wirklichkeit hatten sie ein wichtige, anstrengende Arbeit angefangen.
Hier ein Auszug aus dem Tagebuch eines der obersten Amtsträger: ‘Man hat mich einstimmig zum Organisator des ordnungsgemäßen Ausflugs der Arbeitsbienen gewählt. Die mir auferlegten Pflichten sind ungeheuer schwer und kompliziert, aber da ich mir ihrer großen Wichtigkeit bewusst bin, scheue ich keine Arbeit und bemühe mich, sie unter Einsatz meiner ganzen Kraft bestmöglich zu erfüllen; für einen einzelnen ist die Arbeitslast jedoch zu groß, und deshalb habe ich mich entschlossen, A. als Gehilfen anzustellen, zumal mich der Vetter meiner Tante ohnehin gebeten hatte, ihm einen Posten zu verschaffen.
Dasselbe habe ich mit B., D, und G. getan, und da diese auch ihrerseits Gehilfen brauchen werden, wird unser Departement wohl aus sechs- oder achtunddreißig Mitarbeitern bestehen. In der Ratssitzung habe ich erklärt, dass wir für unsere Tätigkeit zwei Waben Honig benötigen. Nachdem mein Ersuchen einstimmig bewilligt wurde, haben wir unverzüglich unsere Tätigkeit aufgenommen und die Nacht dann auf den Waben zugebracht und Honig gegessen.
Der Geschmack des Honigs ist nicht übel, doch kann man hoffen, dass er noch besser werden wird, wenn erst mein Projekt angenommen und damit eine ordnungsgemäße Tätigkeit der Arbeitsbienen gewährleistet ist. Am nächsten Morgen habe ich in der allgemeinen Sitzung die Einzelheiten meines Projekts erläutert. “Meine Herrschaften”, sagte ich, “wir müssen vor allem überlegen, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die Richtlinien auszuarbeiten, nach denen wir das Programm unserer Tätigkeit aufstellen sollen”.
Die Meinungen hierüber waren geteilt. Debe der Ältere, der die Sitzung leitete, schlug eine Abstimmung vor. Doch die Modalitäten für eine Abstimmung waren noch nicht genügend geklärt, und deshalb wurde beschlossen, zunächst eine Kommission zu ernennen, die hierüber ein Gutachten ausarbeiten und dieses in der nächsten Sitzung vorlegen soll.’
Mit dem gleichen Eifer waren auch die übrigen Machthaber am Werk, und dank ihrer Tätigkeit kam der Bienenstock zu immer größerem Wohlstand. Die leitenden Drohnen flogen tagtäglich ins Freie, kreisten in der Luft und berieten und entschieden alle wichtigen Fragen der Staatsführung, und wenn sie zur Nacht in den Bienenstock zurückkehrten, fielen sie über die Waben her und stärkten sich an dem für sie vorbereiteten Honig. Ihr eigenes Wohlergehen wie auch das des ganzen Bienenstocks ließ nichts zu wünschen übrig.
Einmal kam es freilich zu einer kleinen Störung der Ordnung, als ein Teil der Arbeitsbienen es aus irgendeinem Grund plötzlich für nötig hielt, aus dem Bienenstock hinauszufliegen und sich zusammen mit der Bienenmutter auf dem Ast einer Eberesche niederzulassen.
Eine solche eigenmächtige Handlung der Bienen hätte die Autorität der Drohnen beeinträchtigten können, wenn sie nicht auf den Gedanken gekommen wären, den Abflug der Bienen, als er noch im Gange war, von sich aus anzuordnen, so dass die Bienen sich nicht einbilden konnten, sie hätten ihn aus eigenem Entschluss und ohne Anweisung der Obrigkeit unternommen.
Die Bienen, die sich abgesondert hatten, wurden aus der Gemeinschaft verstoßen, während sich die im Bienenstock Zurückgebliebenen weiterhin den Drohnen unterordneten und nach wie vor für deren Unterhalt sorgten.
Gegen Ende August machten sich jedoch Anzeichen einer Empörung bemerkbar. Als die Drohnen eines Tages von ihrem Ausflug in den Bienenstock heimkehrten, waren zu ihrer Verwunderung alle Waben von Arbeitsbienen besetzt, und sie wurden von ihnen zurückgewiesen. Voller Entrüstung flogen sie wieder fort und wandten sich anderen Bienenstöcken zu.
Doch dort war es dasselbe. Überall wurde ihnen der Zutritt verwehrt. Offenbar war es nun mit ihrem Wohlergehen endgültig vorbei. Zwar machten sie noch einen letzten Versuch, in ihren Bienenstock zurückzugelangen, allein die Bienen ließen sie nicht mehr nach oben hinauf, sondern drängten sie zurück nach unten, wo es kalt war und keine Nahrung gab.
Und auch am nächsten und am dritten Tag änderte sich hierin nichts. Die Drohnen magerten ab, schrumpften zusammen und verendeten eine nach der anderen; aber keine einzige von ihnen erniedrigte sich so weit, durch eigene Arbeit für ihre Ernährung zu sorgen.
Oben im Bienenstock machten sich die Bienen weiterhin zu schaffen und summten an den Waben herum, doch waren sie, wie die Drohnenhistoriker berichteten, der Anarchie verfallen und dem Untergang geweiht, nachdem sie sich der Leitung ihrer Führer entzogen hatten.
Die Gehorsamsverweigerung der Bienen den Drohnen gegenüber führte zu ihrem Verderben. Sie kamen alle um. Mit dieser Feststellung endet die von den Drohnen verfasste Geschichte vom Bienenstock mit dem Bastdeckel.
Bienenversion:
Die von einer Arbeitsbiene geschriebene Geschichte des Bienenstocks weicht von der Darstellung der Drohnen ab. In der Niederschrift der Biene heißt es, dass das Leben im Bienenstock gleich zu Anfang des Frühlings begonnen habe, sobald er in die Sonne hinausgestellt worden sei; die Bienen seien, nachdem sie sich entleert hätten, sofort zu dem von Blütenkätzchen übersäten Weidengebüsch geflogen, hätten es summend umschwirrt und den Blütenstaub auf ihren Pfötchen und den Honig in ihre Mägen eingesammelt.
Nach der Schilderung des Bienenhistorikers war das Leben der Bienen unausgesetzt von Arbeit und Schaffensfreude erfüllt. In ununterbrochener Reihenfolge entfalteten sich nacheinander die Blüten der Apfelbäume, der Sträucher und der Feldblumen, und die Freude an der Arbeit verschmolz mit der Freude an der in Blüte stehenden Natur.
Im Bienenstock gediehen rasch die reichlich mit Nahrung versorgten Larven der Arbeitsbienen, der Drohnen, der Bienenköniginnen, und die Zellen füllten sich mit duftendem Honig. Alles war so reichlich vorhanden, dass der Platz nicht mehr langte und man sich nach einer weiteren Unterkunft umsehen musste; die Drohnen waren inzwischen zur Welt gebracht worden, von denen die Bienen vorübergehend nur eine zur Befruchtung der neuen Königin brauchten.
Auch zogen die Bienen für alle Fälle drei Königinnen groß, obwohl sie von diesen lediglich eine benötigten. Allmählich nahte der bedeutsame Augenblick, da der übermäßig große Nachwuchs abgesondert werden musste. Zu dieser Zeit wurde noch fleißiger gearbeitet. Jetzt erst waren die Drohnen lebendig geworden; sie flogen am frühen Nachmittag ins Freie und kreisten, laut summend, über den Bienenstock.
Die Arbeitsbienen wussten nicht, welche Bedeutung sich die Drohnen zuschrieben, und dachten auch nicht weiter darüber nach; sie fanden sich mit deren Untätigkeit und Gefräßigkeit ab, weil sie sich sagten, dass sie eine von ihnen schließlich doch benötigen würden, und außerdem stand alles in so reichem Maße zu Gebot, dass man selbst mit dem Futter für die nichtsnutzigen Drohnen nicht zu geizen brauchte.
Eben zu dieser Zeit, als die Drohnen der Meinung waren, sie beherrschten die Bienen, machte eine der Arbeitsbienen in ihrem Tagebuch folgende Eintragung: Heute wussten sich unsere Herren und Gebieter vor lauter Übermut gar nicht zu fassen. Wohl vier Stunden trompeteten und kreisten sie sinnlos über den Bienenstöcken und störten uns alle bei der Arbeit. Erst um vier Uhr scherten sie sich fort.
Geschafft haben sie nichts, aber dennoch waren sie ganz erschöpft und stürzten sich sofort auf den Honig. Nun, sollen sie in Gottes Namen! Er reicht auch für sie. Ärgerlich ist nur, dass sie uns bei der Arbeit im Wege sind.
Ende Mai vollzog sich dann das große Ereignis: Die Bienen entließen ihre bisherige Königin in ein neues Reich und blieben selbst mit der befruchteten neuen Königin zurück, die unverzüglich mit dem Eierlegen begann. Die Linden standen jetzt in voller Blüte, da musste man nicht nur die jungen Bienen füttern, sondern die kurze Blütezeit auch dazu ausnutzen, den Honigvorrat für den Winter anzulegen.
Die Blüte war reich und hatte nicht unter Regen gelitten, so dass es eine gute Ernte an Honig gab, doch wurde auch eine beträchtliche Menge für die Winterzeit benötigt. Die Drohnen, die sich eine Bedeutung beimaßen, die ihnen gar nicht zukam, und die sich einbildeten, sie würden unbedingt gebraucht, fuhren indessen fort, die von den Arbeitsbienen gesammelten Vorräte zu vertilgen.
Das ging eine ganze Weile so. Doch als der Bedarf für die Lebenshaltung immer größer wurde, als die Blütezeit zu Ende war und nur noch Disteln übrig blieben, gingen die Bienen, ohne sich vorher verabredet zu haben, alle gleichzeitig daran, den Drohnen den Zutritt zum Honig zu verwehren, sie drängten sie zurück und machten diesen frechen Schmarotzern sogar kurzerhand den Garaus.
Die Drohnen wurden allesamt vernichtet, wogegen das Bienenvolk nicht nur am Leben blieb, sondern auch aufs beste für den Winter gerüstet war. Als der Winter anbrach, wurden die Bienen still und verkrochen sich an ihre Plätze, wo sie die Kinder wärmten und die Wiederkehr des Frühlings und die Freuden des Lebens erwarteten.
Der Bienenstock mit dem Bastdeckel · Leo Tolstoi · Story
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Autor: Leo Tolstoi
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Kannst du dich an den ersten Schluck deines Getränks heute Morgen erinnern? Bei vielen Menschen läuft das Leben wie mit eingeschaltenem Autopiloten ab. Sie befinden sich gedanklich oft woanders und merken dabei gar nicht, wie ihrer Aufmerksamkeit unzählige Dinge entgehen, die das Leben so lebenswert machen.
Aventin