Der schweigsame Ritter

Der schweigsame Ritter · Märchen zum Nachdenken

Es begab sich einmal, dass der König alle seine Ritter zusammenrief und sie in die weite Welt hinaus sandte. Unerkannt sollten sie durch das Land ziehen, den Menschen Gutes tun, und auch darauf achten, wie sie lebten und wirkten.

Nun war ein blutjunger Ritter dabei, den führte sein Weg lange durch eine Einöde. Er war noch kaum jemandem begegnet, als er eines Abends bei Einbruch der Dämmerung unversehens vor einem zauberhaften Waldschloss stand.

Aus den hohen Fenstern strahlte der Glanz von Kerzen, doch konnte er kein Lebewesen entdecken.

Herzhaft trat er auf das Tor zu, das öffnete sich sogleich; er schritt die breite Treppe empor und kam in einen Saal, ohne einen einzigen Menschen zu sehen.

Und dennoch regte und bewegte sich etwas um ihn her wie von vielen Händen und Füßen verursacht. Er wunderte sich aber nicht allzu sehr, sondern sah sehr aufmerksam umher, nahm dann an der festlich gedeckten Tafel Platz, aß und trank nur soviel, als Hunger und Durst zu stillen nötig war, und rief danach:

»Führt mich zum Herrn des Schlosses, damit ich ihm danken kann!«

Sofort wanderte ein kleines Licht vor ihm her; er folgte der tanzenden Flamme und gelangte in ein reich verziertes Gemach, darin eine schöne Frau saß. Sie nickte ihm freundlich zu und sprach:

»Ich habe dich erwartet. Bist du auch satt geworden?«

Er bejahte und wollte ihr seinen Dank aussprechen, doch sie winkte nur mit ihrer weißen Hand, da ertönte fröhliche Musik. Er musste sich zu ihr setzen und sie unterhielten sich.

Schließlich bat sie ihn, ihr auf ein Jahr zu dienen. Sie müsse oftmals das Schloss verlassen und benötige daher einen zuverlässigen Hüter ihrer Schätze, die in drei Kammern aufbewahrt würden. Als er eilfertig zustimmte, hob sie warnend den Finger:

»Es ist eine Bedingung dabei, du darfst niemals auch nur einen einzigen Blick in diese Kammern hinein werfen!«

Das versprach er hoch und heilig und blieb also da. Nach einiger Zeit rief sie ihn herbei und sagte, sie gehe jetzt für eine Weile fort, gab ihm einen Ring mit drei kleinen Schlüsseln, den solle er gut verwahren, keinesfalls aber eine der Kammern betreten.

Er barg den Schlüsselbund an seinem Herzen und spazierte durchs ganze Schloss, noch immer, ohne jemanden anzutreffen, ging dann auch im Garten herum und blieb plötzlich an einem Häuschen stehen, welches drei Türen besaß.

Sollte darin etwa der geheimnisvolle Schatz sein, den er hüten musste? Neugierig betrachtete er die Schlösser, aber dazu waren die Schlüssel, die er bei sich trug, doch viel zu klein. Schon wollte er vergleichen, besann sich jedoch seines Versprechens und lief davon.

In der Nacht fand er keinen Schlaf, immer überlegte er, was es wohl mit den drei Kammern für eine Bewandtnis habe und weshalb er nicht hineinschauen dürfe.

Am nächsten Morgen zog es ihn mit aller Gewalt in den Garten. Diesmal versuchte er, durch die Schlüssellöcher zu spähen. Hinter dem ersten gewahrte er rosigen Schein, im mittleren strahlte goldener Glanz, und aus dem letzen war nur ein eisiger Hauch zu spüren, der ihn unangenehm berührte.

Nun hatte er den Tag über zu grübeln genug und konnte auch in jener Nacht nicht ruhig schlafen, weil er zu gern das Geheimnis der drei Schatzkammern lüften wollte.

Am anderen Tag hielt er es kaum mehr aus, zog den ersten winzigen Schlüssel hervor um zu sehen, ob er zu dem großen Schloss gehöre. Sobald er das Schloss mit dem Schlüssel berührte, sprang die Tür auf: Tausende von Rosen blühten und dufteten hier, und aus jeder schaute das liebliche Antlitz eines Kindes hervor.

Überrascht wollte er wieder schließen, doch mit aller Kraftanstrengung gelang ihm dies nicht. Da stand auch schon die Herrin vor ihm. Traurig sagte sie zu ihm:

»Weshalb hast du deine Neugier nicht bezähmt? Sie wird dich einmal ins Verderben stürzen!«

Er flehte um Vergebung und gelobte, zukünftig ihre Schätze sorgfältiger zu hüten.

Eines Tages rief sie ihn wieder, übergab ihm die drei Schlüssel und mahnte ihn, wachsam zu sein, sie müsse für einige Zeit fort. Lange wagte er nicht, in den Garten und an das besagte Häuschen zu gehen, doch es ließ ihm keine Ruhe.

Dieses Mal zog er den Schlüssel der mittleren Kammer hervor. Kaum berührte der das Schloss, sprang die Tür auf und gab den Blick frei auf herrliche Gefilde, die im goldenen Sonnenglanz da lagen. Überall waren glückliche Menschen fleißig bei der Arbeit zu sehen. Beinahe wäre er zu ihnen hinein gegangen, aber schon hielt ihn die Hand der Schlossherrin zurück.

Betrübt ob seines Wortbruches, wollte sie ihm dieses Mal kein Gehör schenken, als er reumütig Besserung schwur, sie meinte nur:

»Du wirst die Folgen deiner Neugier einmal tragen müssen.«

Das ging eine Weile so hin, da rief sie ihn wieder und übergab ihm die drei Schlüssel, weil sie fort reisen müsse.

»Hüte dich vor der dritten Kammer«, warnte sie ihn eindringlich beim Abschied.

Er spazierte nun stundenlang im Schloss umher, besah sich alle Kunstwerke, aß und trank, doch bald plagte ihn Langeweile, und der Garten mit dem Schatzhaus zog ihn ungeheuerlich an.

Endlich gab er nach und versuchte, auch das Geheimnis der dritten Tür aufzuspüren. Noch hielt ihn die Warnung ab, den Schlüssel herauszuziehen, da kreischte über ihm im Gezweig eine Elster mit höhnischer Stimme:

»Was zögerst du? Es wird dir ebenso wenig geschehen, wie vorher.«

Daraufhin nahm er den dritten Schlüssel, hielt ihn ans Türschloss und – – – oh Schreck und oh Graus! Düstere Finsternis herrschte darin. Knochen-Gerippe lagen verstreut umher und Geruch von Moder und Fäulnis drang mit eiskaltem Hauch auf ihn ein, dass er bewusstlos zu Boden stürzte.

Kurz danach fühlte er sich angerührt; die Schlossherrin sprach mit strenger Stimme:

»Nun ist das Maß voll! Verlasse diesen Ort und versuche, verstehen zu lernen, was du hier vorzeitig erschautest!« Dann legte sie ihm ihren Finger auf die Lippen, so dass ihn seine Stimme verließ und er kein einziges Wort mehr sprechen konnte.

Stumm und schwer betrübt zog er von dannen. Jetzt besann er sich erst recht auf seines König Auftrag, wanderte durch die Dörfer und erwarb sich viel Anerkennung bei den Menschen, weil er immer fleißig und aufopferungsvoll half, ohne zu klagen und ohne je ein Wort zu sprechen.

Bald war er landauf und landab bekannt als der schweigsame Ritter. Es war kein leichtes Leben, das er führte, doch nahm er diese Buße für seinen Vertrauensbruch, den er begangen hatte, willig hin.

An den Abenden, wenn alle Arbeit getan war und die anderen sich bei Tanz und Spiel vergnügten, saß er meist abseits und allein und dachte über den Sinn der drei Schatzkammern nach, die er unerlaubt geöffnet hatte.

Und auf einmal wusste er plötzlich, dass er in der ersten Kammer mit den Rosen, das Werden des Lebens erspäht hatte. Dieses Wissen ließ ihn froh und heiter werden; er trug nun etwas leichter seine Bürde.

Dann überkam ihn eines Tages die Gewissheit, dass er in der zweiten, goldenen Kammer das Bestehen des Lebens erschaut hatte. Voller Glücksgefühl wirkte er fortan weiter und ließ besonders den Armen, Geplagten und Kranken seine Hilfe angedeihen.

Das hatte zur Folge, dass man überall voller Lob vom schweigsamen Ritter war. Er selbst wusste nichts davon, sondern erfüllte nur stumm seine Aufgaben und suchte nach dem Sinn der letzten Kammer.

Dieser Sinn aber erschloss sich ihm erst, als er eines Abends schwer krank auf sein Lager sank. Da schien ihm auf einmal das Schreckliche verschwunden, das Geheimnis der Wandlung des Lebens erfüllte ihn, und mit dieser Erkenntnis löste sich auch seine Zunge wieder.

»Gott sei Lob und Dank«, flüsterte er und schlief ein. Am anderen Tag war er wieder genesen, sprang auf und wanderte zum König. Der empfing ihn herzlich.

Und wer saß zur Linken des Königs? Die Herrin des Waldschlosses! Sie lächelte milde und freute sich, dass er weise geworden war.

Er lebte fortan in der Burg seiner Väter am Meer, handelte stets liebevoll und wurde, auch ohne stumm zu sein, lebenslang »Der schweigsame Ritter« genannt.

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Autor: Märchen zum Nachdenken

Bewertung des Redakteurs:
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Wo immer du bist, sei immer ganz dort.

Eckhart Tolle