Der reiche Mann

Der reiche Mann · Leo Tolstoi · Leben Hilfe und gute Taten

Ein reicher Mann lag im Sterben. Sein ganzes Leben hatte sich nur um Geld und Gold gedreht, und als es nun mit ihm zu Ende ging, dachte er, dass auch im Jenseits Geld und Gold alles sein werde. Darum befahl er seinen Söhnen, ihm einen Beutel voll Goldmünzen in den Sarg zu legen. Die Kinder erfüllten ihm diesen Wunsch.

Als er in der anderen Welt ankam, wurde er durch allerlei Förmlichkeiten aufgehalten: Bücher wurden aufgeschlagen, und der Reiche musste seinen Namen mehrmals angeben. Während man seinen Namen suchte und ihn aber nicht fand, quälten ihn der Hunger und der Durst, so dass er es fast nicht mehr aushielt.

Da entdeckte er in der Ecke eine Anrichte mit Speisen und Getränken wie im Wartesaal eines großen Bahnhofs. Es ist, sagte er bei sich selbst, wie ich gedacht habe: Man lebt hier ungefähr wie auf der Erde; gut, dass ich mein Geld bei mir habe.

Vergnügt betrachtete er seinen Beutel und trat an die Theke. Billig, dachte der Reiche, sehr billig! »Und das hier?« Er zeigte damit auf eine appetitliche Pastete. »Eine Kopeke!« war wiederum die Antwort des Mannes hinter der Theke, den das Staunen des Reichen belustigte. »Nun, wenn die Dinge so stehen, so geben Sie mir bitte zehn Sardinen und fünf Pasteten auf den Teller; und dazu noch ein Glas Rotwein.«

Aber der Mann beeilte sich nicht. »Bei uns muss zuerst bezahlt werden«, sagte dieser trocken. »Mit Vergnügen!« erwiderte der Reiche und drückte ihm schmunzelnd eine Goldmünze in die Hand. »Können Sie herausgeben?« Der Mann drehte das Geldstück hin und her und sagte dann: »Bedauere! Das ist keine Kopeke!« Und damit winkte er zwei handfesten Dienern, die den Reichen hinausführten.

Dem Reichen war jetzt sehr traurig zumute. Ich werde wechseln müssen, wenn man hier nur Kopeken nimmt, dachte er bei sich. Er eilte zu seinen Söhnen und befahl ihnen im Schlaf: »Nehmt mir das Gold aus dem Sarg und gebt mir einen Beutel Kopeken!«

Die erschrockenen Söhne taten, wie der Vater befohlen hatte, nahmen die Goldmünzen weg und legten einen Beutel Kopeken hinein. Damit trat der Reiche triumphierend wieder an die Theke. »Nun habe ich Kleingeld, nun geben Sie rasch, was ich bestellt habe, ich bin entsetzlich hungrig und durstig.«

»Bei uns wird zuerst bezahlt«, war die Antwort, die er wiederum zu hören bekam. »Bitte, hier!« Und damit gab der Reiche dem Mann hinter der Anrichte eine Handvoll Kopeken.

Der Verkäufer sah das Geld an und sagte lächelnd: »Wie ich sehe, haben Sie dort unten wenig gelernt. Wir nehmen hier nicht Kopeken an, die Sie besitzen, sondern nur die, welche Sie verschenkt haben. Denken Sie nach, haben Sie niemals einem Bettler eine Kopeke gegeben? Haben Sie niemals einem armen Bruder Hilfe geleistet?«

Der Reiche senkte sein Haupt, dachte lange lange nach und fand nichts. Er hatte nie eine Kopeke verschenkt. Seine Versäumnisse kamen ihm jetzt zum Bewusstsein, und die beiden handfesten Diener führten ihn wiederum hinaus.

Der reiche Mann · Leo Tolstoi · Leben Hilfe und gute Taten

Es ist nicht wichtig, was Du betrachtest, sondern was Du siehst.

Henry David Thoreau