Vielarmige Göttin Guanyin

Vielarmige Göttin Guanyin · China · Leben Glaube und Hoffnung

Das Weiterleben der Seele nach dem Tod ist in Europa so eine Sache. Der eine glaubt, auf diese, der andere, auf jene Weise am Fegefeuer vorbeikommen zu können.

Das war und ist zum Teil in China noch ganz anders. Dort wird nach alter Auffassung nur der Seele derjenigen Person der Zugang zur Stätte der Freuden gewährt, welche auf Erden männliche Nachkommen hinterlassen hat. Wie einfach, denkt man.

Aber nicht jedem Paar war oder ist dieses Schicksal hold, manchmal kommt eben auch ein liebes Mädchen zur Welt, so dass einige die schiere Verzweiflung packen möchte.

Da kann nur eines helfen: Auf zum Taischan! Da, wo der Hoang ho, Chinas Sorgenkind, seine trüben Fluten an Schantungs Hauptstadt Tsinanfu vorbei strömen lässt, da erhebt sich, der Mittagssonne zu, ein mächtiger Gebirgsklotz aus der Ebene und auf seiner höchsten Erhebung wohnt die gütige Helferin in solcher Not, Guan Yin, die vielarmige, daher gebefreudige Göttin.

Nicht einfach ist der Bittgang zu ihr hinauf. Etwa 6000 Treppenstufen muss der fromme Pilger oder die fromme Pilgerin steigen und erheblich wird der Geldbeutel erleichtert durch fromme Gaben, die an allerhand Mühselige und Beladene am Rand des Weges zu geben sind.

Tritt man voller Pietät dann durch das Himmelstor in das Allerheiligste ein, so hat man sich noch mit der Hohenpriesterschar gut zu stellen, ehe man zur Göttin selbst zugelassen wird und ihren Segen erflehen kann.

Viele der fremden Langnasen haben diese heilige Stätte schon besucht, seitdem Reisebusse in pietätloser aber bequemer Weise Schantungs heiligen Boden durcheilen und Entfernungen ungeachtet Regen und Wind überwinden.

Schöner war es einst, als die Reise noch auf Maultierkarren oder in Sänften möglich war und viel Ruhe und Stimmung über allem lag, die Behaglichkeit des Daseins von dem Grundsatz getragen war: Immer langsam voran, und der Begriff »Zeit ist Geld« nur drüben, jenseits des großen Wassers, bekannt war.

In dieser Zeit sah eines Tages die Göttin von ihren lichten Höhen herab zwei weiße Männer sich die Steintreppen hinaufbewegen. Hart klang ihr Tritt auf dem steinigen Weg, über die sonst nur weiche Ledersohlen unhörbar hinweg glitten. In ihrer Allwissenheit war ihr bekannt, dass sie den Besuch hart gesottener Junggesellen zu erwarten hatte, eines in China unmöglichen Etwas.

Auch fühlte sie, dass der mühselige Aufstieg zu ihr weniger aus pietätvollem Glauben an ihre Wundertätigkeit gemacht wurde, als vielmehr dem Wunsch entsprungen war, mal zu sehen, was da oben los war, ein entsetzlicher Gedanke für eine Göttin.

Schützend hatte sich beim Eintritt der Fremden die Hohenpriesterschar um das goldene Bildnis der Göttin aufgebaut, um mit der passiven Gewalt vollendeter äußerer Formen jegliche Ungehörigkeit abzuwehren.

Aber auch göttliche Herzen unterliegen manchmal dem Umschwung von Stimmungen. Zwei harte Silber Dollar, welche der eine Fremde durch das große goldene Absperrgitter gleiten ließ, erweichten das Herz der Allgütigen und ihrer Priester, und auf den Wink ihres steingeschmückten Zeigefingers an der dritten östlichen Hand von oben überreichte der eine Hohepriester dem Spender als Gabe der Göttin einen Sohn aus Lehm.

Ihn hatte einst ein armer Bauer aus Schantungs Gefilden ihr zu Füßen gelegt. Der Erbauer des Gebildes hatte das Zeichen männlicher Würde mit besonderer Liebe und Sorgfalt dargestellt, damit die Göttin ihn ja nicht missverstehen sollte.

Der fremde Mann ging hocherfreut von dannen, am Himmelstor nahm er sein Söhnchen auf den Schoss und bestieg mit seinem Begleiter wieder den nächsten Reisebus.

Lange hat der einfache Sohn aus Lehm ein modernes Arbeitsbüro geziert, aber er konnte sich da nicht wohlfühlen, das feuchte Klima bekam ihm nicht, er sank deshalb immer mehr in sich zusammen und war eines Tages ganz »kapusula« und flog auf den Müllhaufen.

Die Zeit ist über das Land gezogen, und hat selbst diese hartgesottenen Junggesellen zum Heiraten gebracht, aber unseren Freunden sind nur »Töchter« beschieden worden. Und was lernen wir daraus: Der Mensch versuche die Götter nicht!

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Autor: N. N.

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Carl Zuckmayer