Großer Mann und schwarzer Hund

Großer Mann und schwarzer Hund · Christine Nöstlinger

Jedes Mal, wenn der Willi etwas tat, was der Mutter nicht gefiel, sagte die Mutter: »Willi, der große Mann wird dich gleich holen!« oder: »Willi, der schwarze Hund wird kommen und dich beißen!«

Der Willi dachte oft an den großen Mann und an den schwarzen Hund und malte sich aus, wie die beiden wohl aussehen mochten. Den schwarzen Hund stellte sich der Willi sehr wild vor. Mit Borstenhaaren und Feueraugen, mit einer Teufelszunge und Vampirzähnen.

Den großen Mann stellte sich der Willi sehr groß vor. Und auch sehr breit. Mit riesigen Händen und grünen Augen im krebsroten Gesicht.

Einmal saß der Willi in seinem Zimmer und zerlegte den Wecker. Er wollte nachschauen, warum der Wecker läuten konnte. Gerade als er den letzten Knopf von der Weckerrückseite abgeschraubt hatte, ging die Zimmertür auf. Der große Mann und der schwarze Hund kamen herein.

Die beiden sahen ganz anders aus, als der Willi gedacht hatte. Sie sahen uralt und auch ein bisschen schäbig aus. 

Der Hund war dick, hatte kurze Beine, breite Hängeohren und wenig Haare. Zwischen den wenigen schwarzen Locken schaute überall rosa Haut hervor. Aus seinem zahnlosen Maul hing eine feuchte rosa Zunge. Seine Augen waren wasserblau.

Der große Mann war nicht größer als einen halben Meter. Er hatte schneeweiße Haare und ein Gesicht voller Runzeln. Sein magerer Körper steckte in einem schwarzen altmodischen Samtanzug.

Der schwarze Hund legte sich gleich neben Willi auf den Boden. Der große Mann schaute auf den Willi und auf den Wecker und schüttelte den Kopf und sagte: »Ohne Schraubenzieher wirst du da nicht weiterkommen!«

Der Mann zog einen Schraubenzieher aus seiner Hosentasche und gab ihn dem Willi. Der Willi konnte mit dem Schraubenzieher nicht recht umgehen. Immer wieder rutschte der Schraubenzieher aus dem Schraubenschlitz. Der Mann plagte sich eine Stunde lang mit dem Willi und dem Wecker herum. Dann war der Wecker zerlegt. Der schwarze Hund grunzte zufrieden.

Plötzlich hörten sie die Mutter kommen. Der große Mann und der schwarze Hund krochen schnell unter Willis Bett. Willi saß allein mit dem zerlegten Wecker auf dem Fußboden, als die Mutter ins Zimmer kam.

Während die Mutter die Weckerräder und die Weckerschrauben aufsammelte, schimpfte sie wieder fürchterlich: »Willi, gleich wird dich der große Mann holen!«, und: »Willi, gleich wird der schwarze Hund kommen und dich beißen!« Aber das machte dem Willi nicht aus, denn er wusste ja jetzt, wer die beiden waren.

Der große Mann und der schwarze Hund blieben beim Willi. Am Tag spielten sie mit Willi. In der Nacht schliefen sie beim Willi im Bett. Nur wenn die Mutter ins Zimmer kam, krochen sie geschwind unter das Bett.

Der große Mann hatte immer schöne Einfälle. Wenn der Willi den Hagebuttentee nicht trinken wollte, goss der große Mann mit dem Hagebuttentee den Gummibaum. In der Nacht, wenn der Willi von einem Geräusch erwachte und nicht mehr einschlafen konnte, erzählte der große Mann lustige Geschichten. Oder der große Mann bemalte die Mauer hinter Willis Bett mit lauter kleinen Männern. Oder der große Mann holte heimlich aus der Küche Salz und Kakao und Majoran und Mehl und Pfeffer und Essig und machte daraus mit dem Willi einen dicken Brei.

Der schwarze Hund tat nicht besonders viel. Er schlief meistens nur oder er grunzte zufrieden. Aber jeden Dienstag fraß er Willis Kohlsuppe. Wenn der Willi eine Stunde in der Küche vor dem Kohlsuppenteller gesessen und noch immer keinen Löffel davon gegessen hatte, trug die Mutter den Kohlsuppenteller immer ins Kinderzimmer und sagte: »Willi, hier bleibst du so lange, bis der Teller leer ist!«

Der schwarze Hund mochte Kohlsuppe sehr. Kaum war die Mutter aus dem Kinderzimmer verschwunden, schlabberte er den ganzen Teller leer.

Eines Tages saßen der Willi, der große Mann und der schwarze Hund im Kinderzimmer und dachten darüber nach, ob sie vielleicht Vaters Werkzeugkasten zum Spielen holen sollten. Sie dachten so angestrengt darüber nach, dass sie die Mutter nicht kommen hörten. 

Als die Zimmertür aufging, krochen der Mann und der Hund  schnell unters Bett. Doch sie waren nicht schnell genug. Die Mutter sah das Hinterteil des schwarzen Hundes gerade noch unter dem Bett verschwinden. Sie fragte: »Willi, was hast du da unter dem Bett?«

Der Willi sagte: »Den großen Mann und den schwarzen Hund habe ich unter dem Bett!«

»So ein Blödsinn«, sagte die Mutter und bückte sich und schaute unter das Bett und blickte dem schwarzen Hund mitten in die wasserblauen Augen. Die Mutter stieß einen lauten Schrei aus und lief in die Küche und kam mit einem Besen bewaffnet zurück. Sie stocherte mit dem Besen unter dem Bett herum. Sie schrie: »Komm heraus, du Biest!«

Jetzt aber begann es unter dem Bett fürchterlich zu fauchen und zu zischen. Dann wackelte das ganze Bett und der große Mann und der schwarze Hund kamen hervor.

Der große Mann war aber jetzt nicht mehr einen halben Meter groß, sondern zwei Meter und ziemlich breit und seine Augen funkelten grün und sein Gesicht war krebsrot. Der schwarze Hund sah entsetzlich wild aus. Seine wenigen Locken standen borstensteif in die Höhe und sein Maul war voller spitzer, langer Zähne.

Die Mutter flüchtete in die Küche. Der Mann und der Hund liefen hinter ihr her. Die Mutter kroch unter den Küchentisch.

»Willi«, bat sie, »Willi, sag dem großen Mann und dem schwarzen Hund, dass sie verschwinden und mir nichts tun sollen!«

Der Willi rief: »Großer Mann! Schwarzer Hund! Die Mutter fürchtet sich! Erschreckt sie nicht!«

Der große Mann brüllte: »Zuerst sagt die Mutter dauernd, dass wir kommen werden, und wenn wir dann da sind, heult sie! Da soll man die Welt noch verstehen!«

Der schwarze Hund bellte: »So eine Frechheit! Mich haben schon viele Mütter geholt! Aber mit dem Besen hat mich noch keine gestochen!«

»Großer Mann, schwarzer Hund«, bat der Willi, »geht jetzt wieder in das Kinderzimmer, bitte!«

Da schrumpfte der große Mann auf einen halben Meter und der schwarze Hund verschluckte seine Vampirzähne wieder. Sie sahen wieder uralt und ziemlich schäbig aus, nickten dem Willi freundlich zu und trotteten ins Kinderzimmer.

Die Mutter kroch unter dem Küchentisch hervor.

»Ach, Willi«, stöhnte sie, »Ach, Willi, nie mehr rede ich ein Wort vom großen Mann und vom schwarzen Hund!«

Der Willi nickte und sagte: »Das wird gut sein! Sonst erschreckst du dich nur wieder so!«

Großer Mann und schwarzer Hund · Christine Nöstlinger · Märchen

Solange du nach dem Glück jagst, bist du nicht reif zum Glücklichsein.

Hermann Hesse