Der Pfau im Hühnerhof

Der Pfau im Hühnerhof · Fabel von John Gay · Neid

Je vollkommener Schönheit ist, desto eher wird der kleinste Mangel, der kleinste Fehler sichtbar. Ein winziger, dunkler Fleck kann das blendende Weiß des frisch gefallenen Schnees bereits trüben.

Diese Erfahrung musste auch ein Pfau machen, als ihn einmal der Hunger zum anderen Federvieh trieb, das im Hühnerhof umher lief und seine Körner aufpickte.

Kaum zeigte er sich in seiner schillernden Pracht unter all den Gänsen, Enten, Hühnern und Truthühnern, als sie ihre Hälse nach ihm verdrehten, vollkommen vergaßen weiter zu fressen und dem Pfau deutlich zeigten, dass sie nichts von seinem prächtigen Aussehen hielten.

Der Pfau, seiner Schönheit und Würde wohl bewusst, schritt ruhig zwischen seinen von der Natur nicht so reich beschenkten Verwandten dahin und fraß bedächtig, ohne sich um sie zu kümmern. Um sie aber dann doch zu beschämen, schlug er mit seinen schleppenden, samtigen Federn ein herrliches Rad.

So gleißend, so funkelnd war der Schmelz der Farben, dass die anderen Vögel sich halb geblendet abwenden mussten, und das brachte sie erst recht in Zorn.

Der Truthahn schrie: »Schaut doch, Brüder und Schwestern, wie stolz und unverschämt dieses Geschöpf einher stolziert! Kann Hochmut sich denn niemals zurück halten? Hat Hochmut es denn immer notwendig, sich öffentlich zu zeigen? Bedenkt man aber den wahren und inneren Wert, so muss jeder zugeben, dass wir Truthühner die schönere Haut haben!«

Als nächste zischte die Gans: »Seht doch, welch hässliche Beine er hat! Und diese scheußlichen Krallen! Ich bin ja keineswegs so, dass ich kleine Fehler beanstanden würde, im Gegenteil, ich verachte Leute, die nicht großmütig genug sind, um einen kleinen Mangel zu übersehen. Aber kann ich stillschweigen, wenn ich diesen heiseren Pfauenruf höre! Sogar die Eulen, deren Stimmen doch wahrhaftig nicht angenehm zu nennen sind, erschrecken, wenn dieser grässliche Pfau schreit!«

»Es ist wahr«, rief der Pfau, »das alles sind Fehler! Ihr mögt meine kreischende Stimme, meine hässlichen Beine verachten. Nur so blinde Neider wie ihr lästern vergeblich. Wie könnte jemand über all diese Fehler die Pracht meines Federkleides vergessen?«

»Gewiss, würden meine Beine, über die ihr euch so lustig macht, auch eine Gans oder einen Truthahn tragen. Und würde eure Stimme heiserer sein als meine, wer würde sich schon bei euch um solche Mängel kümmern, bescheiden und unbedeutend im Aussehen, wie ihr seid? Wem Neid und Missgunst den Verstand verdunkeln, der ist leider blind für alle Schönheit, die ihn erfreuen könnte!«

So geschah es, als der Pfau in den Hühnerhof ging.

Lehre: Oft geschieht es unter Leuten, dass jemand unter weniger hübschen Menschen Neid und Missgunst in den Gesichtern der anderen erweckt. Und nicht weniger suchen diese dann auch nach seinen Fehlern, wie jene Gänse, Enten, Hühner und Truthühner.

Der Pfau im Hühnerhof · Fabel von John Gay · Neid

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Der Pfau im Hühnerhof - Fabel von John Gay - Neid - Je vollkommener Schönheit ist, desto eher wird der kleinste Mangel, der kleinste Fehler sichtbar

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Autor: John Gay

Bewertung des Redakteurs:
4

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Dalai Lama