Der Mann mit dem Gedächtnis

Der Mann mit dem Gedächtnis · Peter Bichsel · Bahn & Fahrplan

Ich kannte einen Mann, der wusste den ganzen Fahrplan auswendig, denn das einzige, was ihm Freude machte, waren Eisenbahnen

Er verbrachte seine Zeit oft auf dem Bahnhof, schaute, wie die Züge ankamen und wie sie weg fuhren. Er bestaunte die Wagen, die Kraft der Lokomotiven, die Größe der Räder, bestaunte die aufspringenden Kondukteure und den Bahnhofsvorstand.

Er kannte jeden Zug, wusste, woher er kam, wohin er ging, wann er irgendwo ankommen wird und welche Züge von da wieder abfahren und wann diese ankommen werden.

Er wusste die Nummern der Züge, er wusste, an welchen Tagen sie fahren, ob sie einen Speisewagen haben, ob sie die Anschlüsse abwarten oder nicht. Er wusste, welche Züge Postwagen führen und wie viel eine Fahrkarte nach Frauenfeld, nach Olten, nach Niederbipp oder irgendwohin kostet.

Er ging in keine Wirtschaft, ging nicht ins Kino, nicht spazieren, er besaß kein Fahrrad, kein Radio, kein Fernsehen, las keine Zeitungen, keine Bücher, und wenn er Briefe bekommen hätte, hätte er auch diese nicht gelesen. Dazu fehlte ihm die Zeit, denn er verbrachte seine Tage im Bahnhof, und nur wenn der Fahrplan wechselte, im Mai und im Oktober, sah man ihn einige Wochen nicht mehr.

Dann saß er zu Hause an seinem Tisch und lernte auswendig, las den neuen Fahrplan von der ersten bis zur letzten Seite, merkte sich die Änderungen und freute sich über sie.

Es kam auch vor, dass ihn jemand nach einer Abfahrtszeit fragte. Dann strahlte er übers ganze Gesicht und wollte genau wissen, wohin die Reise gehe, und wer ihn fragte. Der Reisende verpasste dann die Abfahrtszeit bestimmt, denn er ließ den Frager nicht mehr los, gab sich nicht damit zufrieden, die Zeit zu nennen, er nannte gleich die Nummer des Zuges, die Anzahl der Wagen, die möglichen Anschlüsse und die Fahrzeiten.

Kurz gesagt, er erklärte, dass man mit diesem Zug nach Paris fahren könne, wo man umsteigen müsse und wann man ankäme. Er begriff nicht, dass das die Leute nicht interessierte. Wenn ihn dann jemand einfach stehenließ und weiterging, bevor er sein ganzes Wissen erzählt hatte, wurde er böse, beschimpfte die Leute und rief ihnen nach: «Sie haben keine Ahnung von Eisenbahnen!»

Er selbst bestieg nie einen Zug. Das hätte auch keinen Sinn, sagte er, denn er wisse ja im voraus, wann der Zug ankomme. «Nur Leute mit schlechtem Gedächtnis fahren Eisenbahn», sagte er, «denn wenn sie ein gutes Gedächtnis hätten, könnten sie sich doch wie ich die Abfahrts- und Ankunftszeit merken, und sie müssten nicht fahren, um die Zeit zu erleben».

Ich versuchte, es ihm zu erklären, ich sagte: «Es gibt aber Leute, die freuen sich über die Fahrt, die fahren gern Eisenbahn und schauen zum Fenster hinaus und schauen, wo sie vorbeikommen».

Da wurde er böse, denn er glaubte, ich wolle ihn auslachen, und er sagte: «Auch das steht im Fahrplan, sie kommen an Lurerbach vorbei und an Deitigen, an Wangen, Niederbipp, Önsingen, Oberbuchsiren, Egerkingen und Hägendorf».

«Vielleicht müssen die Leute mit der Bahn fahren, weil sie irgendwohin wollen», sagte ich.

«Auch das kann nicht wahr sein», sagte er, «denn fast alle kommen irgend einmal zurück, und es gibt sogar Leute, die steigen jeden Morgen hier ein und kommen jeden Abend zurück — so ein schlechtes Gedächtnis haben sie».

Und er begann, die Leute auf dem Bahnhof zu beschimpfen. Er rief ihnen nach: «Ihr Idioten, ihr habt kein Gedächtnis». Er rief ihnen nach: «An Hägendorf werdet ihr vorbeikommen», und er glaubte, er verderbe ihnen damit den Spaß.

Er rief: «Sie Dummkopf, Sie sind schon gestern gefahren». Und als die Leute nur lachten, begann er sie von den Trittbrettern zu reißen und beschwor sie, ja nicht mit dem Zug zu fahren.

«Ich kann Ihnen alles erklären», schrie er, «Sie kommen um 4 Uhr 17 an Hägendorf vorbei, ich weiß es genau, und Sie werden es sehen, Sie verbrauchen Ihr Geld für nichts, im Fahrplan steht alles».

Bereits versuchte er, die Leute zu verprügeln.

«Wer nicht hören will, muss fühlen», rief er.

Da blieb dem Bahnhofsvorstand nichts anderes übrig, als dem Mann zu sagen, dass er ihm den Bahnhof verbieten müsse, wenn er sich nicht anständig aufführe.

Und der Mann erschrak, weil er ohne Bahnhof nicht leben konnte, und er sagte kein Wort mehr, saß den ganzen Tag auf der Bank, sah die Züge ankommen und die Züge wegfahren, und nur hie und da flüsterte er einige Zahlen vor sich hin, und er schaute den Leuten nach und konnte sie nicht begreifen.

Hier wäre die Geschichte eigentlich zu Ende.

Aber viele Jahre später wurde im Bahnhof ein Auskunftsbüro eröffnet. Dort saß ein Beamter in Uniform hinter dem Schalter, und er wusste auf alle Fragen über die Bahn eine Antwort. Das glaubte der Mann mit dem Gedächtnis nicht, und er ging jeden Tag ins neue Auskunftsbüro und fragte etwas sehr Kompliziertes, um den Beamten zu prüfen.

Er fragte: «Welche Zugnummer hat der Zug, der um 16 Uhr 24 an den Sonntagen im Sommer in Lübeck ankommt?»

Der Beamte schlug ein Buch auf und nannte die Zahl.

Er fragte: «Wann bin ich in Moskau, wenn ich hier mit dem Zug um 6 Uhr 59 abfahre?», und der Beamte sagte es ihm.

Da ging der Mann mit dem Gedächtnis nach Hause, verbrannte seine Fahrpläne und vergaß alles, was er wusste.

Am anderen Tag aber fragte er den Beamten: «Wie viele Stufen hat die Treppe vor dem Bahnhof?», und der Beamte sagte: «Ich weiß es nicht».

Jetzt rannte der Mann durch den ganzen Bahnhof, machte Luftsprünge vor Freude und rief: «Er weiß es nicht, er weiß es nicht»!

Und er ging hin und zählte die Stufen der Bahnhofstreppe und prägte sich die Zahl in sein Gedächtnis ein, in dem jetzt keine Abfahrtszeiten mehr waren.

Dann sah man ihn nie mehr im Bahnhof.

Er ging jetzt in der Stadt von Haus zu Haus und zählte die Treppenstufen und merkte sie sich, und er wusste jetzt Zahlen, die in keinem Buch der Welt stehen.

Als er aber die Zahl der Treppenstufen in der ganzen Stadt kannte, kam er auf den Bahnhof, ging an den Bahnschalter, kaufte sich eine Fahrkarte und stieg zum ersten Mal in seinem Leben in einen Zug, um in eine andere Stadt zu fahren und auch dort die Treppenstufen zu zählen, und dann weiterzufahren, um die Treppenstufen in der ganzen Welt zu zählen, um etwas zu wissen, was niemand weiß und was kein Beamter in Büchern nachlesen kann.

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Autor: Peter Bichsel

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Tue niemandem unrecht und enthalte niemandem die Wohltaten vor, zu denen du verpflichtet bist.

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