Lass den Wind wehen

Lass den Wind wehen · Joseph M. Marshall III · Lakota Indigener

Als ich in der vierten Klasse war, endete ein Streit auf dem Schulhof mit einer Tirade von Beschimpfungen, die man mir entgegen schleuderte und von denen eine verletzender war als die andere.

Zwei weiße Viertklässler bedachten mich mit jedem nur erdenklichen Schimpfwort, das sie für Indianer kannten. Ich hingegen war sprachlos, weil mir nichts gleichermaßen Verletzendes einfiel. Ihre Beleidigungen schmerzten mich noch immer, als ich am Abend meinem Großvater von dem Vorfall erzählte.

»Worte können verletzen«, sagte er, »aber nur, wenn du es zulässt. Sie haben dich beschimpft. Hast du dich in die Dinge verwandelt, die sie zu dir gesagt haben?«

»Nein«, antwortete ich.

»Du kannst dich dem, was sie zu dir gesagt haben, genauso wenig entziehen wie dem Wind, wenn es stürmt. Aber wenn du lernst, den Wind wehen zu lassen, ihn durch dich hindurchwehen zu lassen, dann nimmst du ihm die Kraft, dich umzuwerfen. Wenn du die Worte an dir vorbeiziehen lässt, ohne dass sie deine Wut oder deinen Stolz berühren, wirst du sie nicht spüren.«

Der weise Rat meines Großvaters hat mir durch viele Stürme des Lebens geholfen. Wie seine ruhigen, aber dennoch kraftvollen Ratschläge mich beeinflussten und es immer noch tun, gehört zu meinen Lieblingsgeschichten. Wenn ich jungen Menschen davon erzähle, wie die Worte meines Großvaters mir halfen, spüre ich, dass diese Worte auch ihre Herzen berühren.

In meiner Kindheit war ich überall von Geschichten und dem Geschichtenerzählen umgeben. Die Geschichtenerzähler waren meine Lakota-Großeltern – sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits – und andere Menschen ihrer Generation. Diese Alten kamen mir merkwürdigerweise nicht wirklich alt vor, doch ich hatte das Gefühl, dass sie schon lange unter uns weilten und alles wussten.

Ihre Geschichten waren noch viel älter als sie selbst. Die Großmütter und Großväter waren die Hüter all jener wundervollen Erzählungen, die von den Ältesten an die nächsten Generationen weitergegeben wurden. Die Geschichten, die ich damals hörte und auswendig lernte, enthielten Lehren, die ich auf die Gegenwart anwenden kann, aber sie verbinden mich auch mit der Vergangenheit.

Sie verbinden mich mit einer Lebensweise, die länger existiert, als ich es mir vorstellen kann – und mit den Menschen, die dieses Land durchstreiften und ihre Spuren hinterließen, auf denen wir ihnen folgen können. Und da es mich und andere Menschen wie mich gibt und gab, die diese Geschichten hörten und sie im Gedächtnis bewahrten, wird diese Lebensweise durch uns weiterleben.

Ich konnte nie genug bekommen von diesen Geschichten und wollte meine Lieblingsgeschichten immer und immer wieder hören, so wie andere sich immer wieder denselben Film ansehen. Sie handelten nicht nur von Menschen oder »Zweibeinern«, sondern auch von anderen Menschenarten: dem Elchmenschen, dem Bärenmenschen, dem Vogelmenschen und so weiter.

Und sie handelten vom Land. Ich habe nie eine Geschichte gehört, in der es nicht auch in gewisser Weise um das Land ging.

In den Geschichten sind alle Dinge voller Leben und in der Lage, alles andere zu beeinflussen. Ein Wintersturm kann beispielsweise Persönlichkeit besitzen, er kann ungeduldig, zudringlich und derb sein. Ein junger Baumwollbaum kann quengeln und widerspenstig sein, der Sommerwind kann überzeugend sein und all die Grashalme überreden, sich im selben Augenblick in dieselbe Richtung zu neigen.

Diese Vorstellung durchdringt die Erzählkunst der Lakota, denn die Geschichtenerzähler glauben, dass alle Dinge miteinander verbunden sind. Wenn ich während eines Wintersturms das Spiel der Wolken betrachte oder den Wind auf meinem Gesicht spüre, fühle ich mich mit ihnen verbunden. Ich betrachte sie nicht als etwas, dessen einziger Sinn es ist, die Zweibeiner zu plagen.

Die Geschichten meiner Vorfahren waren zwar unterhaltsam und informativ, doch das war nur ihr vordergründiger Zweck. Sie ermöglichten vielmehr das Überleben einer ganzen Kultur, da sie diese Kultur enthielten. Die Geschichten, mit denen ich aufwuchs, wurden mir bewusst immer und immer wieder erzählt, um mich auf das Leben vorzubereiten. Jede verkörpert eine Tugend, die in der Kultur der Lakota Voraussetzung für Harmonie und Glück ist.

Bei den Lakota haben Tugenden wie Bescheidenheit, Respekt, Aufopferung und Ehrlichkeit einen anderen Stellenwert und eine andere Bedeutung als in der westlichen Kultur. Für uns sind diese Eigenschaften keine nur schwer erreichbaren Ziele, sondern vielmehr wesentlicher Bestandteil des täglichen Lebens. Sie sind genauso instinktiv und fest in uns verankert wie die amerikanischen Höflichkeitsfloskeln »bitte« und »danke« oder »Gesundheit«, nachdem jemand geniest hat.

Als ich aufwuchs, wusste ich, dass ich eines Tages die Dinge, die ich in den Geschichten gelernt hatte, verkörpern sollte. Ich sollte mitfühlend, ehrenhaft und tapfer sein. Ich wusste es, weil auch die Geschichtenerzähler gemäß den Lehren in ihren Geschichten lebten und das praktizierten, was sie predigten: Sie waren mitfühlend, sie waren ehrenhaft und sie waren mutig und weise.

Die Tugenden, die die Geschichten vermitteln, sind die moralischen Grundpfeiler der Lakota-Kultur. Es gibt nichts Wichtigeres. Körperliches Wohlbefinden oder materieller Besitz sind uns zwar nicht gleichgültig, aber wir beurteilen weder uns noch andere nach diesen Maßstäben. Wir glauben, dass wir danach beurteilt werden sollten, wie sehr unser Leben von Tugendhaftigkeit geprägt ist.

Als sich unser Leben durch die Ankunft der Europäer für immer veränderte – als ganze Indianervölker durch Krankheit, Alkohol, Krieg und Enteignung vernichtet wurden -, überlebten wir, weil wir nach den Tugenden lebten, die wir aus unseren Geschichten gelernt hatten. Wir vertrauten darauf, die Art von Mensch zu sein, die unsere Vorfahren gewesen waren, so wie wir sie aus unseren Geschichten kannten.

Wir vertrauten darauf, in der ethischen Haltung unseren Vorfahren zu folgen. So konnten wir uns selbst und ihnen treu bleiben – und wir leben noch immer. Da die Geschichten gleichermaßen Wissen und Inspiration transportieren, stärken sie die Gemeinschaft der Lakota auch weiterhin und ermöglichen es uns, mit unserer Welt und der Zeit, in der wir leben, fertig zu werden.

Für jede Generation stehen Geschichten über Tugendhaftigkeit im Zentrum kultureller Erneuerung. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie den Einzelnen berühren, Mann und Frau, Jung und Alt.

Die Geschichten geben Einblick in unsere Tradition, unsere Brauchtümer und Werte. Über Generationen haben uns diese Lehren geprägt und unsere Leben verändert und sie haben immer noch die Kraft dazu. Wenn man sich nicht bewusst dagegen wehrt, werden sie es tun. Sie werden zwar keinen Nicht-Lakota in einen Lakota verwandeln, aber sie haben jedem, der neugierig auf das Leben ist, viel zu bieten.

Diese Geschichten sind unser Geschenk an die Welt. Sie sind aus unseren Triumphen, unseren Niederlagen, unseren Kräften und unseren Schwächen geboren. Es handelt sich hierbei nicht um wohl gehütete Geheimnisse, sondern um Wegweiser durch die Pfade unseres Lebens.

Sie sind Antworten, die vom Wind der Weisheit durch die weiten Prärien unseres Lebens getragen werden -, die uns und vielleicht auch Ihnen helfen mögen. Das ist jedenfalls mein Wunsch.

Lass den Wind wehen · Joseph M. Marshall III · Lakota Indigener

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Autor: Joseph M. Marshall III

Bewertung des Redakteurs:
4

Gewissen ist das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen.

Immanuel Kant