Der Hase mit den Hörnern · Fabel von Jean de la Fontaine
Ein Hase tummelte sich ausgelassen an einem wunderschönen Sommermorgen auf einem freien Plätzchen, das von dichtem Buschwerk umgeben war. Hier fühlte er sich sicher.
Vergnügt hopste er über ein paar Heidebüschel, sauste übermütig im Kreis umher und wälzte sich mit Wohlbehagen im sonnengewärmten Sand. Er zersprang fast vor Lebenslust und wusste vor Glück nicht wohin mit seinen Kräften.
Aber plötzlich duckte er sich blitzartig in einer kleinen Erdmulde nieder. Ein Hirsch setzte über die Büsche hinweg, und gleich darauf folgte ein Widder. Danach trampelte auch noch ein schwerer Stier respektlos quer durch das sonnige Morgenreich des kleinen Hasen.
»Unverschämte Bande«, kreischte der Hase, »mir meinen schönen Morgen so zu verderben!« Kaum hatte er sich wieder aufgerappelt, sprang eine Ziege über die Sträucher. »Halt«, schrie der Hase, »was soll das bedeuten, wo läuft ihr denn alle hin?«
Die Ziege, die immer zu einem Streich aufgelegt war, schaute lange und ernst auf die Ohren des Hasen, dann meckerte sie munter: »Hast du denn noch nicht vom neuen Gesetz des Königs gehört? Ein kühner Bruder von mir stieß zufällig den Löwen mit seinen prächtig geschwungenen Hörnern in die Seite.«
»Doch der König verstand keinen Spaß und befahl, dass alle Tiere, die Hörner tragen, sein Land verlassen müssten. Wer heute Abend noch hier verweilt, wird mit dem Tode bestraft. Ich muss mich beeilen. Lebe wohl, Meister Langohr.«
»Sonderbar«, dachte der Hase, welcher nicht ganz so schlau war wie sein Großvater, »der Löwe treibt seine Beute aus dem Land? Höchst sonderbar!«
Auf einmal fuhr der Hase zusammen. Jetzt wusste er, warum die Ziege ihn so seltsam angegafft hatte. Natürlich, das war es. Im Sand erblickte der Hase die Schatten seiner Ohren. Sie erschienen ihm riesengroß, und er befürchtete, dass der König seine Ohren für Hörner halten könnte.
»Was mach ich nur, was mach ich nur?« wiederholte der Hasenfuß und zitterte wie Gras im Wind. »Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen, hier kenne ich jeden Grashalm. Ich mag nicht auswandern. Ach, wären meine Ohren doch so klein wie die einer Maus.«
Eine Grille hatte die Worte der Ziege vernommen, und als sie nun den dummen Hasen so jammern hörte, lachte sie. »Du dummer Angsthase, die Ziege hat dir nur Hörner aufsetzen wollen. Was du wirklich an deinem Kopf hast, sind ganz gewöhnliche Ohren.«
»Hier aber hält man sie für Hörner«, gab der Hase traurig zur Antwort. »Was hilft es mir, dass ich, du und der liebe Gott wissen, dass es Ohren sind, wenn es der Löwe nicht glaubt.« Und ängstlich lief der Hase in ein anderes Land.
Der Hase mit den Hörnern · Fabel von Jean de la Fontaine
Wann hast du das letzte Mal einen Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang beobachtet? Es gibt nur wenige Dinge, die so gegenwärt sind wie das berauschende Gefühl, einen Tagesanfang oder das Ende eines Tages zu beobachten. Vergiss dabei deine alltägliche To-Do-Liste und all deine Sorgen.
Aventin