Vom einarmigen Jungen

Vom einarmigen Jungen · Parabel · Judo · Schwäche und Stärke

Es war einmal ein Junge, der war mit nur einem Arm auf die Welt gekommen, der linke fehlte ihm.

Der Junge interessierte sich aber sehr für den Kampfsport. Daher bat er auch seine Eltern so lange, bis sie ihm erlaubten, Unterricht in Judo nehmen zu dürfen. Diese sahen zwar wenig Sinn darin, dass er mit seiner Behinderung gerade diesen Sport wählte, aber dennoch gaben sie seiner Bitte nach.

Der Meister, bei dem der Junge lernte, brachte ihm hauptsächlich nur einen einzigen Griff bei, und den sollte der Junge wieder und wieder trainieren.

Nach einigen Wochen fragte der Junge: »Sag, Meister, sollte ich nicht mehrere Griffe lernen?«

Sein Lehrer antwortete: »Das ist der einzige Griff, den du ganz und gar beherrschen musst.« Obwohl der Junge die Antwort nicht verstand, fügte er sich und trainierte weiter.

Irgendwann kam das erste Turnier, an dem der Junge teilnahm. Und zu seiner Verblüffung gewann er die ersten Kämpfe mühelos. Mit den Runden steigerte sich auch die Fähigkeit seiner Gegner, aber er schaffte es bis zum Finale.

Dort stand er einem Jungen gegenüber, der sehr viel größer, älter und kräftiger war als er und viel mehr Erfahrung hatte. Einige Anwesenden regten deshalb an, diesen ungleichen Kampf abzusagen. Auch der Junge zweifelte einen Moment daran, dass er eine Chance haben würde.

Der Meister aber bestand auf den Kampf. Und in einem Moment der Unachtsamkeit seines Gegners gelang es dem Jungen tatsächlich, seinen einzigen Griff anzuwenden – – – und mit diesem gewann er zum Erstaunen aller das Finale.

Auf dem Heimweg sprachen der Meister und der Junge noch einmal über den Kampf. Der Junge fragte: »Wie war es möglich, dass ich mit nur einem einzigen Griff das Turnier gewinnen konnte?«

»Das hat zwei Gründe« antwortete der Meister. »Der Griff, den du beherrschst, ist einer der schwierigsten und besten Griffe in Judo überhaupt. Darüber hinaus kann man sich gegen ihn nur verteidigen, wenn man den linken Arm seines Gegners zu fassen bekommt.«

Da wurde dem Jungen klar, dass seine größte Schwäche auch seine größte Stärke war.

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Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.


Marcus Aurelius