Sprache und Sprachen · R.M.F · Alltagspsychologie
Die Sprache? Gibt es die Sprache überhaupt? Hat es sie je gegeben? Musste der Sonnentempel von Babel einstürzen, damit die Einheit der Sprache zerstört wurde?
Über sechstausend Sprachen hat man bereits nachgewiesen, und manche Forscher zählen noch weit mehr. Aber genügt das? Reden wirklich alle Menschen, die die »gleiche« Sprache reden, auch wirklich die »gleiche« Sprache?
Redet nicht jede Generation, nicht jede Provinz, nicht jeder Stand, ja jeder Mensch eine besondere Sprache, und redet nicht sogar der Einzelmensch eine andere Sprache, wenn er in einer Versammlung spricht, als wenn er mit seinem Kind plaudert?
Man sieht: die ganze Problematik des allgemein Menschlichen, des Typischen, des Individuellen, die ganze Problematik des Lebens überhaupt kehrt wieder, sobald wir die lebendige Sprache beobachten. Alle die kaum fassbaren Spaltungen, Wandlungen und Bindungen des Lebens spiegeln sich wieder in der Sprache, werden zum Teil bewusst erst durch die Sprache; durch die Sprache, die es als Einheit gar nicht gibt.
Die Sprachforschung, so ungeheueren Fleiß sie auch entfaltet hat, ist weit davon entfernt, all diese Mannigfaltigkeiten gebucht zu haben. Sie hat sich zunächst an die großen Volkssprachen des abendländischen Kulturkreises gehalten, erst in neuester Zeit hat man auch die Sprachen exotischer Völker, bis zu denen der Zwergvölker hinab, durchforscht.
Innerhalb der einzelnen Sprachen hat man den regionalen Dialekten und den historischen Schwankungen Aufmerksamkeit gewidmet, neuerdings dazu auch den Standes- und Altersdialekten, ohne die Fülle der Varietäten auch nur im entferntesten zu erschöpfen.
Wie sollte es denn auch möglich sein, die Millionen von Gelegenheitsdialekten zu erfassen? Gibt es doch kaum ein Liebespaar, kaum eine Schulklasse, die sich nicht eigene Sprachen bildet mit neuen Worten und neuen Ausdrucksformen!
Natürlich muss man für diese Dinge ein feineres Ohr haben als die meisten älteren Philologen, die da glauben, das Wesen der Sprache an den Mumien der Sprache oder an der Schrift studieren zu können. Aber eine Schrift hält vom gesprochenen Wort nur soviel fest wie ein Schmetterlingssammler in seinen Kästen vom bunten Leben eines Falters, der über Sommerwiesen gaukelt.
Gewiss, es steckt sogar noch Leben in den schwarzen Buchstaben der Schrift, aber man muss es auferwecken, muss die toten Schatten mit eigenem Blut tränken und – – hier kehrt die Tragik alles Verstehens wieder – – damit verfälscht man sie!
Wir »übersetzen« die Sprache der Hellenen und Römer, aber wohlgemerkt wir »übersetzen« sie. Wir sagen nicht das »Gleiche« in anderer Form, sondern höchstens Ähnliches oder Verwandtes. Genau übertragen lässt sich kein einziges Wort in eine fremde Sprache; nur für groben Alltagsbedarf kann man so zum Beispiel das lateinische Wort »rex« im Französischen mit »roi«, im Deutschen mit »König« oder im Englischen mit »king« übersetzen.
Jedes dieser Worte aber hat ganz andere Obertöne, ist derselbe Begriff höchstens in dem Sinn wie der »gleiche« Ton »a« der »gleiche« Ton ist, wenn er auf einer Flöte, einer Klarinette oder einem Klavier erklingt. Und gar wenn wir Worte primitiver Sprachen in unsere Kultursprachen »übersetzen«, so ist der Unterschied etwa so als wollten wir den Ton einer Weidenflöte mit einem vollem Orchester wiedergeben.
Ja, wir »übersetzen« im Grunde auch, wenn wir die Sprache Kants oder Goethes nach unseren heutigen Begriffen verstehen. Wir »übersetzen« sogar, wenn wir unseren Freunden oder unserer Geliebten lauschen!
Und doch, so sehr sich die Sprache in Dialekte und Unterdialekte bis ins Unendliche spaltet, sie ist daneben immer noch eine Einheit, wie der Mensch, jenseits aller Spaltung in Völker, Stämme und Individuen, auch eine Einheit ist.
Und wenn der Mythos der Bibel die Trennung der Menschen von der Verwirrung der Sprache herleitet, es besteht daneben zugleich die Wahrheit, dass über alle Spaltungen hinaus die Sprache es ermöglicht, dass sich die Menschen verstehen, dass sich Verbindungen knüpfen, und eine Einheit entsteht, vor der Raum und Zeit verblassen.
Dank der Sprache denken wir noch heute Gedanken, die in Völkern und Zeiten, die schon Jahrtausende hinter uns liegen, entstanden sind, die Sprache und was in ihren variierenden Gebilden enthalten ist, ist das wertvollste Erbe, das wir von ungezählten Geschlechtern vor uns empfangen haben.
Wie in allem, was Menschen geschaffen haben, kehrt die ganze Problematik des Menschen, dass er zugleich Einheit und Mannigfaltigkeit, Dauer und Wandlung, Individuum und Träger überindividueller Werte ist, auch in der Sprache wieder.
Sprache und Sprachen · R.M.F · Alltagspsychologie
Das, was du bist, zeigt sich an dem, was du tust.
Thomas A. Edison