Gestern und Heute · Pseudonym Kaspar Hauser · Weltbühne
Lieber Leser und liebe Leserin 1972! Durch irgendeinen Zufall kommst du auf diese Seite, findest die Jahreszahl, du meinst, es müsste doch 2024 heißen, stutzt und liest dann doch. Guten Tag.
Ich bin sehr befangen: du hast schöne Kleidung an, deren Mode von meiner absticht, auch deine Gedanken, denkst du, sind irgendwie ganz anders … Ich setze dreimal an: Jedes Mal mit einem anderen Thema, man muss doch irgendwie in Berührung kommen … nicht wahr?
Doch jedesmal muss ich es wieder aufgeben – wir verstehen einander nicht wirklich. Ich bin wohl zu klein und zu alt für dich; meine Zeit steht mir bis zum Hals, kaum gucke ich mit dem Kopf ein bisschen über den Zeitpegel hinaus … da, ich wusste es und sehe: du lachst mich aus.
Alles an mir erscheint dir wohl altmodisch: meine Art, zu schreiben, meine Grammatik und meine Haltung … ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht so gern. Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, oder wie es gewesen ist, neumodisch Gesalbtes und altmodisch Vergessenes … Nichts.
Du lächelst, ohnmächtig hallt dir meine Stimme aus der Vergangenheit zu, und du weißt ALLES besser. Soll ich dir erzählen, was die Leute in meiner Zeit im Jahr 1972 bewegt hat? München? Olympische Spiele? Das Fernsehen? Du pfeifst auf ALLES, und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts mehr erkennen vor lauter Staub.
Schmeicheleien? Leider nicht. Selbstverständlich habt Ihr Jungen die Frage: »Völkerbund oder Pan-Europa« oder die »Klimafrage« noch lange nicht gelöst; Fragen werden von der Menschheit oft nicht gelöst, sondern nur liegen gelassen. Manchmal lösen sich diese Fragen aber auch von selbst!
Selbstverständlich habt Ihr auch fürs tägliche Leben dreihundert wichtige Maschinen mehr als wir es hatten, und im übrigen seid Ihr genau so dumm, genau so klug, genauso modern wie wir es waren.
Was ist von uns geblieben? Wühle nicht in deinem Gedächtnis, was du grade in der Schule gelernt hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war, dass es herüberkam; was wirklich groß ist (davon ungefähr die Hälfte, und um die kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagvormittag ein bisschen vielleicht, im Museum).
Wir verstehen uns nicht ganz so recht – Oder?. Es ist wohl dasselbe, wie wenn ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg reden wollte. »Ja, geht es gut? Bei der Belagerung von Magdeburg hat es wohl sehr gezogen … wie?», oder was man sonst so zu sagen pflegt.
Ich kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: Wir beide verstehen uns schon, denn du bist ja ein fortgeschrittener Mensch, gleich mir.
Ach, mein lieber Mitmensch: Auch du bist ein Zeitgenosse! Höchstens, wenn ich »Willi Brandt« sage und du dich erst erinnern musst, wer das war, grinse ich leise vor mich hin: du kannst dir gar nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf dessen Persönlichkeit gewesen sind und waren … Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt wohl erst frühstücken gehen wollen – oder?
Guten Tag. Das Papier ist auch schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne unsrer Landrichter, da, jetzt zerbröckelt mir das Blatt auch schon unter den Fingern … nun, es ist auch schon alt geworden. Geh mit Gott, oder wie du das sonst heute so zu nennen pflegst. Wir haben dir wohl nicht mehr allzu viel mitzuteilen, wir Alten. Wir sind zerlebt, ausgelebt und unser Inhalt ist mit uns schon fast dahin gegangen. Die Form war wohl Alles.
Ja, die Hand will ich dir noch geben – wegen Anstand – NEIN – nicht geben – wegen Corona! Und jetzt gehst du aber frühstücken – JA.
Aber das EINE rufe ich dir noch nach: Besser seid Ihr auch nicht als wir es waren und die Vorigen! Aber keine Spur besser, aber auch gar keine — !!!
Gestern und Heute · Pseudonym Kaspar Hauser · Weltbühne · Kurt Tucholsky
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Gestern und Heute · Pseudonym Kaspar Hauser · Weltbühne · Frei nach Kurt Tucholsky · Lieber Leser und liebe Leserin 1972!
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Autor: Kaspar Hauser
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Ein Mensch ohne Aufmerksamkeit ist gar nicht geeignet, in der Welt zu leben.
Philip Dormer Stanhope