Sprache und Erleben

Sprache und Erleben · R.M.F · Alltagspsychologie

Die Sprache ist das wichtigste Mittel des Menschen, durch das es ihm gelingt, sein Inneres zu äußern, womit aber auch gesagt ist, dass sie das wichtigste Mittel ist, Äußerungen auf das Innere zurückzuführen.

Kein anderes Mittel: weder der mimische Ausdruck noch die bildhafte Symbolik können das Ich in so mannigfache und enge Beziehung zur Außenwelt bringen, kein anderes Mittel aber ist darum auch so aufschlussreich in Bezug auf die Seele; denn wir erkennen, wie wir die Welt nur durch das Ich erkennen, auch das Ich nur durch die Welt.

Mag also die Sprache noch so vielen objektiven Zwecken untergeordnet sein, auch in dieser Unterordnung noch erschließt sich das Ich. Vor allem muss man sich darüber klar sein, dass das zweckgeschäftige Wesen der Sprache vielfach nur Schein ist.

Die Richtung auf die Sachen ist zum guten Teil nur vorgetäuscht, während es in Wahrheit dem Sprecher nur auf Ausdruck seiner Ich-Zustände ankommt.

Wenn man in Gesellschaft über das Wetter, über die neueste Mode oder über die letzte Kanzlerkrise redet, so kommt es den meisten Menschen nicht auf sachliche Klärung des Tatbestandes an, sondern man redet, um zu reden, das heißt, um irgendwelche eigenen Triebe oder Stimmungen abzureagieren.

Der Inhalt des Gesprächs ist häufig nur Vorwand, um kaum damit zusammenhängenden Stimmungen und Gedanken Ausdruck zu geben. Ja, es wäre aber auch ein wenig geschmacklos, der geselligen Unterhaltung diesen Charakter des Unsachlichen, aber Persönlichen zu nehmen.

Der Gelehrte, der im Salon »sachliche Reden« hält, macht sich lächerlich. Die elegante Konversation steht dem subjektiven Spiel und der Kunst weit näher als etwa der objektiv gerichteten Wissenschaft.

Übrigens ist es mit gelehrten Vorträgen und Abhandlungen oft genug nicht anders: auch bei ihnen ist das sachliche Thema oft nur Vorwand, um subjektiven Stimmungen Ausdruck zu verleihen.

Im Grunde redet jeder Mensch immer von seinen Hauptinteressen.

Man hat im Scherz einmal gesagt, wenn ein Engländer, ein Deutscher und ein Pole über den Orang-Utan ein Buch zu schreiben hätten, dann würde der Engländer ein Buch »Der Orang-Utan und der Fußballsport«, der Deutsche eins: »Der Orang-Utan und die Metaphysik« und der Pole ein Buch mit dem Titel: »Der Orang-Utan und die polnisch-nationale Frage« verfassen.

Dies ließe sich nach Belieben verlängern, nicht nur für Nationen, sondern auch für Einzelmenschen. Sie reden stets, auch bei den objektivsten Anlässen, über ihre subjektiven Interessen und Erlebnisse: nur der Grad und der Inhalt dieser Interessen wechseln.

Nietzsche redet so zum Beispiel in all seinen Büchern über sein Verhältnis zu Richard Wagner, Strindberg – – auch in seinen historischen Dramen oder philosophischen Abhandlungen – – über seine Ehekonflikte und Tolstoi über seine religiösen Gewissensnöte.

Dass das nicht bei allen Menschen so deutlich hervortritt, liegt zum Teil darin, dass nicht überall ein einzelnes Erlebnis so monomanisch dominiert, dass viele Interessen und Erlebnisse nebeneinander zum Ausdruck drängen und sich die Linien daher verwirren.

Jedenfalls ist die Sprache, wie alle anderen Ausdrucksmittel, nicht nur Ausdruck der formalen Struktur der Seele, sie offenbart stets auch die charakteristischen Erlebnisse des Individuums, selbst dann und dort, wo dies sie es nicht weiß und will.

Es gehört zu den verlockendsten Aufgaben des Psychologen, alles Gesprochene und Geschriebene auf diese subjektiven Ober- und Nebenstimmen abzuhorchen, in denen sich die persönlichen Erlebnisse spiegeln.

Wie die Refrains gewisser Lieder immer wiederkehren, so tauchen die dominierenden Erlebnisse im Gespräch immer wieder auf, oft nur als Relativsätze, als Parenthesen, als Vergleiche; aber sie leuchten überall durch, wie der weiße Hintergrund in einem Aquarellbild.

Oft treibt der Sprecher auch ein — für den unbefangenen Beobachter sehr lustiges — Versteckspiel, indem er sich zwingen will, nicht von dem zu reden, was ihn innerlich beschäftigt, und kommt doch stets immer wieder darauf zurück.

Man hat das in der Kriminalpsychologie auszunutzen gesucht, so dass man die Angeklagten nötigte, zu allerlei ihnen zugerufenen Worten verwandte Begriffe hinzuzufügen, wobei man annahm, dass sich das Schuldbewusstsein in den Assoziationen verriete.

Besonders die Psychoanalyse hat ganz konsequent die Ausdruckswerte der Sprache auszunutzen versucht, indem sie die Patienten nötigte, sich ohne direktes Ziel auszusprechen, einfach alles herauszusagen, was ihnen einfiele.

Und dann hat sie aus den oft krausen Wegen der Gedanken das verdrängte Erlebnis erschlossen, um das jene kreisen.

Was wir früher von den Ausdrucksgesten fanden, dass die einzelne Geste dem bewussten Willen unterstellt und von ihm verstellt werden kann, gilt auch von der Sprache.

Mag in einer einzelnen Unterhaltung oder in einer einzelnen Schrift sich das Ich auch verstecken und verstellen können, »nehmt alles nur in allem«, und ihr habt den ganzen Menschen!

Sprache und Erleben · R.M.F · Alltagspsychologie

Der ziellose Mensch erleidet sein Schicksal, der zielbewusste gestaltet es.

Immanuel Kant