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Leben · Manfred Hausmann

Leben · Manfred Hausmann · Liebe und Treue · Story

Habe ich mich tatsächlich so schlimm benommen? fragte Corinna.

Abel sagte, er selbst sei auch so aufgeregt gewesen. Es war ja auch eine furchtbar aufregende Sache, Mademoiselle Storm.
In Wirklichkeit handelt es sich aber um ganz etwas anderes.
Ja? sagte Abel.

Sie hustete und setzte sich hoch. Dann hustete sie noch einmal, warf sich wieder zurück und lag eine Zeit lang still da, und dann holte sie tief Atem und sagte: Es handelt sich um folgendes… Sie kommen aus Berlin?
Ja. Und früher war ich in Spandau.

Was halten Sie von der Treue?
Wovon?
Von der Treue?
Wie kommen Sie denn gerade darauf?

Das ist ja gleich. Gibt es Ihrer Meinung nach Treue oder nicht?
Ooch, sicher, sagte Abel vorsichtig. Treue? Wie soll ich das verstehen?
Sie sollen es gar nicht weiter verstehen. Gibt es Treue?
Ja!

Wissen Sie das so genau?
Das braucht man doch nicht noch besonders zu wissen. Es gibt eben Treue. In meiner Klasse haben wir mal…
Ne, ich sehe schon, Sie haben auch keine Ahnung. Sie auch nicht. Sie reden einfach ins Blaue hinein. Noch weniger als ich.
Abel sagte: So?

Glauben Sie wirklich, fuhr Corinna fort, dass es das alles gibt, was sie einem so sagen?
Ich? Was sage ich Ihnen denn?
Nein, klein geschrieben, sie, die Menschen, die Lehrer, die Eltern, die Pastoren und so.
Abel wurde nicht klug daraus. Sie sollten man nicht soviel darüber nachdenken, sagte er, über so’n Zeugs. Haben Sie schon die ganze Zeit über da gelegen und über so’n Zeugs nachgedacht?
Zeugs? Das ist kein Zeugs. Das ist mein Leben. Mein ganzes Leben. Darum habe ich auch so viel geheult. Ich kann nichts anderes mehr denken. Irgendwas muss es doch geben auf der Welt, woran man sich halten kann. Verstehen Sie mich?

D…och, sagte Abel unsicher.
Es muss doch…es müssen doch… Nicht wahr?
Ja.
Aber wissen Sie was?
Nein.
Wissen Sie was? Ich glaube, sie belügen uns, die Großen, sie belügen uns von einem Ende bis zum anderen.

Sie meinen doch nicht das mit dem Kinderkriegen und diesen ganzen Schwindel?
Du bist verrückt. Aber vielleicht hängt das auch damit zusammen. Bestimmt sogar. Es ist alles dieselbe Leier. Liebe… was habe ich wunder gemeint, was Liebe wäre! Das Heiligste auf Erden hieß es überall, das Glück des Glückes, die ewige Harmonie der Seelen. Und ich glaubte das alles auch. Ich war so dumm, dass ich es glaubte. Und dann mit einem Mal in Wirklichkeit. Ha!
Was war denn in Wirklichkeit los? fragte Abel.

Haben Sie das denn noch nicht erlebt?
Ich weiß nicht… Er ruckelte auf dem Sofa hin und her.
Sprechen Sie erst mal weiter!

Ganz was anderes! Ganz entsetzlich was anderes. Sie ist von Anfang an anders, die Liebe, gar keine Harmonie und so, das ist ja der größte Unsinn. Ich muss das mal aus mir heraus sprechen. Liebe, das ist direkt eine Qual, Peitschenhiebe, man stöhnt und kriecht hin und her.
Unwillkürlich fing Abel an, auch ein bisschen zu stöhnen.
Corinna stockte. Wie meinen Sie?

Nein, sagte Abel und schwieg.
Aber es hört nicht auf, es hört Tag und Nacht nicht auf, und nicht in der Schule und nicht im Kino und nie.

Abel kreuzte die Arme vor der Brust und drückte seine Rippen zusammen.
Und dann Treue…, fuhr Corinna fort. Da reden sie: Ah, wunderbar, Treue, wunderbar! Aber das ist ja auch ganz anders, ist ja bloß ein Wort. Wir Kinder, wir sind vielleicht treu, weil wir… ich weiß auch nicht, warum. Aus Dummheit. Aber die Großen haben ganz was anderes in ihrem Kopf als Treue, die lachen darüber. Ganz was anderes.

Was denn? fragte Abel.
Wenn ich das wüsste! Wenn ich nur wüsste, was sich da in seinem Kopf abgespielt hat! Aber ich bin ja zu ahnungslos dazu. Ich weiß nur: keine Treue. Und so verhält es sich mit allem: Liebe, Treue, Anständigkeit, das gibt es in Wirklichkeit gar nicht.

Doch! rief Abel leise.
Ja, das glauben Sie wohl. Es ist genau so wie mit dem Weihnachtsmann oder mit dem Engel, der die Kinder vom Himmel bringt. In Wirklichkeit ist es ganz anders. Was ist das denn für eine Welt, in der die Großen leben? Wissen Sie denn darin Bescheid?

Abel blieb halb aufgerichtet: So meinte ich das ja nicht, ich glaube schon, dass Sie etwas Tolles erlebt haben, ich glaube Ihnen jedes Wort, ich glaube auch, dass Sie mehr wissen als ich. So meinte ich es ja nicht, Mademoiselle Storm. Denken Sie mal an: was Sie da sagen, das habe ich nämlich schon immer so dunkel geahnt. Ich auch. Ich habe mich schon viel damit beschäftigt. Nein, lassen Sie mich mal ausreden! Sie machen sich ja keinen Begriff, Mademoiselle Storm, wie Ihre Worte in mich eingedrungen sind. Vielleicht sieht es so aus, als läge ich hier ganz ruhig. Aber wenn Sie hören könnten, wie mein Herz klopft…

Das ist es ja, was Sie zum Ausdruck bringen, genau das. Wenn ich mir so überlege: das Leben, was ist das Leben denn? Mein Vater, was ist das eigentlich für einer, was denkt er abends, ehe er einschläft? Wenn ich mir das so überlege, es ist wahnsinnig unheimlich. Ich habe mir schon eingeredet, ich wäre krank, aber nun höre ich ja, dass es Ihnen ganz ähnlich ergangen ist. Sie wissen ja auch nicht, was nun eigentlich mit dem Leben los ist. Ach, Mademoiselle Storm, lassen Sie uns doch mal ganz offen zueinander sein!

Als Corinna nach einer Weile antwortete, hatte ihr Stimme einen anderen Klang: Ob es wohl allen Menschen in unserem Alter so geht? sagte sie verzagt. — Wie alt sind Sie denn schon?
Fünfzehn. Und Sie?
Ich werde siebzehn.
Dachte ich wohl, sagte Abel.

So? Die meisten halten mich aber für älter.
So? Ne, ich dachte eigentlich gleich siebzehn. — Allen Menschen in unserem Alter? Das glaube ich beinahe, das glaube ich sicher. Sie haben nun schon Ihre Erfahrung, Mademoiselle Storm, aber die meisten haben noch nichts Diesbezügliches erlebt. Man… man… ahnt es nur. Und das ist eigentlich noch unheimlicher. Wissen Sie, man tappt doch ganz mutterseelenallein in das Dunkel hinein. Wir wollen uns ja nichts vormachen. Man hat einfach Angst.

Manchmal hat man Angst, sagte Corinna.
Und was ist das Leben denn, Mademoiselle Storm, so die Zukunft, die einen erwartet? Man hat bei keinem bemerkt, dass es jedenfalls nicht so ist, wie man es gelernt hat. Viel roher wahrscheinlich und ekelhafter. Aber es verrät einem ja keiner, was er wirklich erlebt hat. Darüber sprechen die Menschen ja nicht.

Corinna sagte, andererseits hieße es auch, dass alles schon im voraus bestimmt sei.
Nicht wahr, fiel Abel sofort ein, und das ist nun das Allerunheimlichste. Wenn ich darüber erstmal zu grübeln anfange, dann ist es überhaupt aus. Vielleicht steht es jetzt schon fest, dass einem mit zwanzig Jahren ein Bein abgefahren wird oder dass man durchs Abitur fällt. Das muss man sich nur mal richtig vorstellen.

Ja, meinte Corinna, da haben wir die Tragödie der Jugendlichen. Aber was wollen Sie dagegen machen? Es kommt, wie es kommen soll.

Das ist wahr, Mademoiselle Storm. Wenn man nur nicht so oft daran denken müsste! Manche leben ja blindlings drauflos. So bis vierzehn Jahre, bis dreizehn Jahre, da war ich auch glücklich. Wenn ich mir das so überlege: was war man damals glücklich und ahnungslos! Aber das kommt nie wieder. Ob es die Sünde ist? Das kommt nun nie wieder. Man könnte weinen vor Traurigkeit. Wissen Sie, was ich manchmal glaube? Es ist alles in uns selbst drin.

Wieso?
Wieso? Ja, Gott, wieso? Er wälzte sich auf die Seite und ließ seinen Arm zum Bett hinaushängen. Ich stelle mir manchmal vor, dass es gar nicht das Leben selber ist. Wir haben nur Angst vor uns selbst, vor all dem Dunklen und Schlimmen in uns selbst, ganz da innen drin.

Jaa… nein, Corinna war anderer Ansicht. Das ist doch wieder ganz was anderes.
Abel wusste es ja auch nicht bestimmt, aber in gewisser Hinsicht… er wollte ihr was erzählen: Wie ich noch keine sieben Jahre alt war, da hatte ich eine wahnsinnige Angst vor Gespenstern, nicht wahr? Und da sagte meine Mutter eines Tages ganz eindringlich zu mir, bei allem was ihr heilig wäre, es gäbe keine Gespenster. Ob ich ihr das nun glaubte?

Und da habe ich geantwortet, schön, ich glaubte es ihr, aber sie könne reden, was sie wollte, irgend etwas gäbe es doch, wovor ich Angst hätte. Da konnte sie nichts gegen sagen. Sehen Sie, da konnte sie einfach nichts gegen sagen. Und dann merkte ich allmählich, weil es beinahe jeden Abend vor dem Einschlafen wiederkam, dann merkte ich, dass die Unheimlichkeit überhaupt in meinem eigenen Innern saß. Sie saß da und lauerte wie so ein dunkles Tier.

Und heute ist es noch ganz genau so. Es gibt so Stunden, da weiß ich vor Unruhe nicht aus noch ein. Ich gehe umher, ich lese, ich sause mit dem Rad los. Aber das hilft alles nichts. Es ist einfach was da, mit dem ich nicht fertig werde. Aber ich weiß nicht, was es eigentlich ist. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich habe Angst davor. Auf diese Weise habe ich das Spielen mit meiner Mundharmonika gelernt.

Nämlich, wenn ich mich in eine Ecke setze und Musik mache… ich kann gar nicht besonders spielen, keine Spur, denken Sie das bloß nicht… aber so die verschiedenen Töne, die aus einer Mundharmonika herausströmen, die weiche Musik, und wenn ich dann zufällig eine Melodie finde, die so ziehend und süß ist, aah… das tut mir dann so weh, das ist dann so süß, das ist dann wie Vergessenheit und Traum. Dann vergeht alles, was mich ängstigt. Ich träume und singe nur so vor mich hin mit meiner Harmonika. So ist das.

Corinna äußerte sich nicht dazu.

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Autor: Manfred Hausmann

Bewertung des Redakteurs:
4


Liebe ist der am schwersten zu erreichende Bewusstseinszustand.


Raik Dalgas