Glück und Verstand

Glück und Verstand · Märchen aus Dagestan

Es lebte einmal ein Hirte, der nichts sein eigen nannte außer einer alten verblichenen Burka. Dafür besaß er aber einen klugen Kopf und geschickte Hände. Tagsüber weidete er die Schafe. Des Nachts hüllte er sich in seine Burka, saß am Feuer und drehte Seile oder flocht Körbe. Von ihrem Verkauf nährte er sich redlich.

Stets hatte er ein paar Maisfladen und ein Stück Schafskäse bei sich, um seinen Hunger zu stillen, und seinen Durst löschte er an jeder Quelle. Wenn man sich so ernährt, kann man hundert Jahre alt werden. Der Hirte hieß Bechlum. Der Kaufmann Dadasch, dessen Schafe der Hirte hütete, nannte ihn aber nur Bechlum-Dummkopf.

Es gab in dieser Gegend nämlich noch einen Bechlum, den Sohn des Kaufmanns. Der war der Dümmste weit und breit, doch der Vater rief ihn nur Bechlum-Schlaukopf. Das verwunderte keinen, denn wozu schließlich braucht der Sohn eines Reichen schon Verstand?

Eines Tages nun verirrten sich das Glück und der Verstand in die Berge, wo der Hirte Bechlum die Schafe des Kaufmanns Dadasch weidete. Unterwegs gerieten sie in Streit miteinander. Da sprach das Glück: »Ohne mich würden alle Menschen auf der Welt zugrunde gehen. Sag ehrlich, wie könnten sie allem Missgeschick entrinnen, wenn sie ihre Hoffnung ausschließlich auf dich den Verstand setzen würden?«

Der Verstand antwortete: »Ohne mich würden die Menschen selbstverständlich zugrunde gehen. Es heißt ja nicht von ungefähr: Hoffe aufs Glück, aber mach keine Dummheiten!« Als der Verstand und das Glück noch so miteinander stritten, gewahrten sie plötzlich den Hirten Bechlum und beschlossen, an ihm ihre Kräfte zu erproben.

Der Verstand trübte das Wasser in der Quelle, und als Bechlum daraus trank, büßte er die Hälfte seiner Klugheit ein. Dann sprach der Verstand zum Glück: »Nun versuche einmal ohne mich, Bechlums Schicksal zu richten!« Das Glück hatte sich noch nicht ans Werk gemacht, da ritt der Kaufmann Dadasch zu Bechlum auf die Weide.

Es war bereits Abend. Alle Erdenwesen machten sich zum Schlaf bereit, und da auch Verstand und Glück nicht immer wachen, beschlossen sie, in der Nähe der Menschen zu nächtigen. Sie verwandelten sich in reiche Derwische und erschienen an der Quelle.

Als der Kaufmann ihre reichen Gewänder sah, rief er sofort: »He, Bechlum-Dummkopf, entfache das Feuer, wie sich’s gehört! Schlachte den besten Hammel zu Ehren der Gäste!«

Als der geschlachtete Hammel ausgeweidet war, warf Dadasch das Fleisch in den Kessel und befahl dem Hirten: »Bechlum-Dummkopf! Lauf in den Aul und sag meinem Sohn, er soll dir einen Burdjuk voll Wein geben.« Mit einem Seitenblick auf die vornehmen Leute fügte er hinzu: »Und diese Lende bring in die Moschee! Ein guter Moslem vergisst niemals Allah.«

Bevor sich Bechlum daranmachte, den Auftrag auszuführen, nahm er noch rasch einen Schluck aus der Quelle! Da verlor er auch die zweite Hälfte seines Verstandes und wurde genauso dumm wie der Sohn des Kaufmanns Dadasch.

Er nahm eines seiner Seile, schob das Fleisch in die Schlinge und zerrte es die staubige Landstraße hinter sich her. Als Bechlum-Schlaukopf den Burdjuk voller Wein aus der Sakija brachte, packten beide Dummköpfe ihn von hinten und zerrten und schoben ihn wie eine bockige Ziege.

Als der Verstand sah, dass es zwei Dummköpfe gab, schauerte er fröstelnd am Feuer. Er flüsterte dem Glück zu: »Dieser Sohn des Kaufmanns hat wohl auch aus der Quelle getrunken. Was sollen wir jetzt bloß tun?« Doch das Glück beruhigte ihn. »Lass nur, meine Kraft reicht für zwei Bechlums.«

Der Verstand und das Glück richteten es nun so ein, dass Wegelagerer über die Schafherde des Kaufmanns Dadasch herfielen, Bechlum-Dummkopf und Bechlum-Schlaukopf ergriffen, nach Derbent brachten und sie als Sklaven in den Palast des Padischahs verkauften. So saßen die beiden Bechlums an einen Pfahl gekettet, klirrten mit ihren Fesseln und konnten sich nicht von der Stelle rühren.

Bechlum-Schlaukopf war völlig niedergeschlagen, Bechlum-Dummkopf aber hatte sich, wenn er auch seinen Verstand eingebüßt hatte, dennoch die geschickten Hände bewahrt. Er riss den Bast vom Pfahl und begann daraus ein Seil zu flechten. Der Padischah merkte, dass er an diesem Sklaven reich werden könne, und befahl, ihn zum Hauptseilbinder in seinem Reich zu machen.

Das Glück kehrte in den Palast des Padischahs ein und sah, dass es sich nur noch um einen Bechlum zu kümmern brauchte. Bechlum-Schlaukopf hatte indessen durch die Tatenlosigkeit und sein großes Leid völlig den Kopf verloren. Als der Padischah an dem Pfosten vorbeikam, an den Bechlum gekettet war, schlug er den Gebieter auf den Kopf.

Die Bediensteten des Padischahs stürzten sich auf Bechlum, um ihn in Stücke zu reißen, doch das Glück wollte es, dass in der Mütze des Padischahs eine Schlange saß. Die Mütze fiel zu Boden, und alle sahen, dass Bechlum dem Padischah das Leben gerettet hatte.

Entzückt rief der Padischah: »Mein Sklave ist ja ein Prophet!« Und er befahl, Bechlum-Schlaukopf die Ketten abzunehmen, ihm zu essen zu geben und ihn zum größten Hellseher im ganzen Reich zu machen.

Sprach das Glück zum Verstand: »Siehst du, ich bin stärker als du! Ich habe gesiegt!« Gab der Verstand zur Antwort: »Nein, das ist nur ein halber Sieg. Bechlum-Dummkopf ist ohne Glück mit seinem Schicksal fertig geworden.« Sie setzten ihren Streit fort. Der Verstand wandte sich endgültig von beiden Bechlums ab.

Bechlum, der Hirte, der zum größten Seilbinder im Reich des Padischahs befördert worden war, drehte so viele Seile, dass er nicht wusste, wohin mit ihnen. Und da er aus der Quelle getrunken haue, die den Menschen den Verstand nimmt, warf er alle Seile in den Brunnen im Palasthof des Padischahs, so dass er versiegte. Der Padischah bekam Appetit auf Scherbet, doch man konnte ihn nicht anrichten, weil kein Wasser im Brunnen war.

Der Padischah machte sich die Nase schmutzig, doch er konnte sich nicht waschen, weil kein Wasser da war. Das erzürnte ihn, und er befahl, Bechlum von einem hohen Berg auf einen Felsvorsprung zu werfen, als Fraß für die Raubvögel. Bechlum erkannte, dass es von diesem Steilfelsen kein Entrinnen gab, dass ihn entweder die Raubvögel fressen oder er in den gähnenden Abgrund stürzen würde.

So schnitt er von den Sträuchern feste Zweige ab und flocht einen Korb. Dann kletterte er hinein, stemmte sich mit Händen und Füßen gegen das Korbgeflecht und ließ sich langsam den Hang hinab in die Schlucht rollen. Er quetschte sich zwar ein wenig die Rippen, blieb aber am Leben.

Der Padischah, der mit angesehen hatte, wie geschickt sich Bechlum aus seiner misslichen Lage befreit hatte, lachte und ernannte ihn zum Hauptakrobaten in seinem Reich. Als das Glück einkehrte, sah es, dass es wiederum nur für einen Bechlum zu sorgen hatte.

Im Palast des Padischahs war derweilen das große Siegel des Padischahs spurlos verschwunden. Der Padischah wurde zornig, rief den dummen Sohn des Kaufmanns, den er zum Haupthellseher in seinem Reich ernannt hatte, und sprach: »Nun blättre einmal in deinen Büchern, Bechlum-Schlaukopf! Wenn du das Siegel findest, will ich dich belohnen. Findest du es nicht, lasse ich dir den Kopf abschlagen.«

Um in Büchern zu blättern, dafür ist zumindest ein wenig Verstand vonnöten. Bechlum aber besaß keinen. Da war ihm nichts zu nehmen und nichts zu geben. Denn wo nichts ist, lässt sich nichts hinzufügen!

Bechlum aber war vom Dünkel besessen: Da er der Sohn eines Kaufmanns und zudem der Haupthellseher im Reich war, gab es nach seiner Meinung keinen Menschen weit und breit, der höher stand als er. Deshalb beschimpfte er den Padischah und gab ihm einen Fußtritt, dass der Padischah gegen die Wand flog.

Die Bediensteten des Padischahs warfen sich auf Bechlum, um ihn mit ihren Schwertern zu erschlagen, doch in dem Augenblick kam das Glück und ließ es geschehen, dass in der Zimmermitte, genau dort, wo eben noch der Padischah gestanden hatte, ein Pfeiler einstürzte und ein riesiger Stein von der Decke fiel. Das Siegel des Padischahs aber war in der Tasche seines Oberkleides und fiel durch den Sturz zu Boden.

Die Menschen wussten sich vor Jubel nicht zu fassen. »Dieser Bechlum hat dem Padischah das Leben gerettet! Er ist tatsächlich der größte Hellseher auf Erden.« Der Padischah wusste vor Freuden kaum, wie er Bechlum danken sollte, und machte ihn zu seinem Ratgeber.

Sprach das Glück zum Verstand: »Siehst du, ich habe gesiegt. Ich bin also stärker als du!« Der Verstand wandte ein: »Nein, das ist wiederum nur ein halber Sieg. Bechlum-Dummkopf ist schließlich allein fertig geworden. Wozu braucht er das Glück?« Sie beschlossen, es auf einen weiteren Versuch ankommen zu lassen.

Der Wesir und der Wekil des Padischahs neideten es derweilen den beiden Bechlums, dass der Gebieter sie mit seiner Gnade überschüttete. Wenn das so weiterginge, fanden die beiden, könnte der Padischah sie sogar an ihrer Stelle einsetzen, und sie beschlossen, ihre Konkurrenten beiseite zu schaffen.

Der Wesir redete dem Bechlum, Sohn des Kaufmanns, ein, dass es ihm, da er ja ein großer Zauberer und Hellseher sei, gar nichts ausmachen könne, sich den ganzen Schatz des Padischahs anzueignen. Der Wekil machte Bechlum, den Hirten, inzwischen betrunken und legte ihn heimlich ins Bett zum Padischah, in dem jener mit seiner Frau schlief. Nachts erwachte der Padischah und war äußerst verblüfft. Ihm schien, als haben seine Frau und er nicht vier Beine, sondern mehr.

Er hob den Kopf, sah genauer hin und begann im Halbdunkel zu zählen: »Eins, zwei, drei, vier, fünf…« Bechlums Rausch war unterdessen verflogen, und zusammen mit der Ernüchterung kehrte ihm auch sein Verstand zurück.

Da er nicht erriet, wie er in diese Situation gekommen war, flüsterte er leise: »Steh auf und zähle noch einmal! Steig aus dem Bett und zähle!« Der Padischah, der glaubte, seine Frau flüstere ihm die Worte zu, stand ächzend auf und begann wieder zu zählen. Er zählte vier Beine im Bett.

»Zum Teufel! Du hast Recht, Weib, was einem nicht alles in den Kopf kommt, wenn man schlaftrunken ist!« Und er ging dorthin, wohin selbst der Padischah zu Fuß geht. Der Hirte Bechlum aber schlich leise aus dem Palast und kehrte in die Berge zu seinen Schafen zurück. Für den einfachen Menschen ist es immer besser, sich von Padischahs und Khans fernzuhalten!

Morgens kam das Glück in den Palast des Padischahs und sah, dass es auch diesmal nur für einen Bechlum zu sorgen hatte. Bechlum hatte nämlich die Einflüsterungen des Wesirs nicht vergessen. Nachts war er durch den Rauchfang in die Schatzkammer des Padischahs geklettert, hatte sich die Taschen mit Edelsteinen voll gestopft, sich Goldschmuck hinter den Gürtel gesteckt und konnte nun nicht zurück.

Er hätte nur einen Teil der geraubten Kleinodien zurückzulassen brauchen, doch der Verstand reichte ihm nicht dafür: Die Gier hatte ihn übermannt. So fand man ihn denn, festgeklemmt im Rauchfang, zog ihn heraus und führte ihn vor den Padischah. Der Padischah wurde wild und befahl, Bechlum den Kopf abzuschlagen. Doch in diesem Moment stellte sich das Glück ein. Die Axt des Henkers wurde zu Wachs, und Bechlum blieb am Leben.

Da er sich weiß Gott was dünkte und empört darüber war, dass man ihm alle Kleinodien abgenommen hatte, bekam Bechlum einen Wutanfall und schrie den Henker an: »Du Dummkopf, weißt du nicht, dass ich stärker bin als alle auf der ganzen Welt!« Der Verstand dachte, nun sei er an der Reihe, Bechlum zu erretten, und eilte zu ihm. Doch wenn einer nichts im Kopf hat, ist Hopfen und Malz verloren.

Bechlum beschimpfte alle Untertanen des Padischahs aufs unflätigste. »Ihr Ungeziefer, ihr seid allesamt meine Sklaven! Fortan bin ich hier der Padischah! Bringt Ketten herbei und fesselt den alten Padischah! Dorthin mit ihm, an den Schandpfahl!«

Das Glück glaubte, der Padischah werde seinen Bediensteten wiederum einen Befehl erteilen, und stand wartend abseits. Doch der Padischah befahl nichts. Er stieß Bechlum einfach mit seiner Krone so wütend in den Leib, dass jener seinen Geist aufgab.

Es heißt schon zu Recht: Wenn ein Dummkopf kein Glück hat, hilft ihm auch fremder Verstand nicht weiter.

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Autor: Märchen aus Dagestan

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Aventin