Die Probe · Story von Herbert Malecha · Jens Redluff
Redluff sah, das Quietschen der Bremsen noch in den Ohren, das ärgerliche Gesicht des Fahrers. Mit zwei taumeligen Schritten war er wieder auf dem Gehweg. «Hat es Ihnen was gemacht?» «Nein, nein, schon gut. Danke», sagte er.
Eine Welle von Schwäche stieg von seinen Knien auf, wurde fast zur Übelkeit. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, angefahren auf der Straße liegen, und dann die Polizei. Er durfte jetzt nicht schwach werden, nur weiterlaufen, unauffällig weiterlaufen zwischen den vielen auf der hellen Straße.
Seit drei Monaten war er zum ersten Mal wieder in der Stadt, zum ersten Mal wieder unter so vielen Menschen. Er musste einmal wieder raus, wieder Kontakt aufnehmen mit dem Leben, überhaupt raus aus allem. Ein Schiff musste sich finden lassen, möglichst noch, bevor es Winter wurde. Seine Hand fuhr leicht über die linke Brustseite seines Jacketts, er spürte den Pass, der in der Innentasche steckte; gute Arbeit war dieser Pass, er hatte auch nicht schlecht dafür bezahlt.
Die Autos auf der Straße waren zu einer langen Kette aufgefahren. Und wieder Menschen, Menschen, ein Strom Gesichter, Sprechen und hundertfache Schritte. Redluff fuhr mit der Hand an seinen Kragen. An seinem Hals merkte er, dass seine Finger kalt und schweißig waren.
Wovor hab ich denn eigentlich Angst, wer soll mich denn schon erkennen in dieser Menge, sagte er sich. Aber er spürte nur zu genau, dass er in ihr nicht eintauchen konnte, dass er wie ein Korken auf dem Wasser tanzte. Ihn fror plötzlich. Nichts wie verdammte Einbildung, sagte er sich wieder.
Vor drei Monaten war das ja noch anders, da stand sein Name schwarz auf rotem Papier auf jeder Anschlagsäule zu lesen, Jens Redluff; nur gut, dass das Foto so schlecht war. Der Name stand damals fett in den Schlagzeilen der Blätter, wurde dann klein und kleiner, auch das Fragezeichen dahinter verschwand bald ganz.
Redluff war jetzt in eine Seitenstraße abgebogen, der Menschenstrom wurde dünner. Hier war es dunkler. Er konnte den Kragen öffnen und die Krawatte nachlassen. Der Wind wehte vom Hafen her. Ihn fröstelte. Ein breites Lichtband fiel quer vor ihm über die Straße, jemand kam aus dem kleinen Lokal, mit ihm ein Dunst nach Bier, Qualm und Essen. Redluff ging hinein.
Die kleine Kneipe war fast leer, ein paar Soldaten saßen herum, grelle Damen in ihrer Gesellschaft. Ein Musikautomat begann aus der Ecke zu hämmern. Hinter der Theke lehnte ein dicker Bursche mit bloßen Armen. Er schaute nur flüchtig auf. «Cognac, doppelt», sagte Redluff zum Kellner.
Er merkte, dass er seinen Hut noch in der Hand hielt, und legte ihn auf den leeren Stuhl neben sich. Er steckte sich eine Zigarette an. Schön warm war es hier, er streckte seine Füße lang aus. Gut saß es sich hier.
Der Dicke hinter der Theke drehte jetzt seinen Kopf nach der Tür. Draußen fiel eine Wagentür schlagend zu. Gleich darauf kamen zwei Männer herein, der eine von ihnen war sehr klein. Dieser blieb in der Mitte stehen, der andere, im langen Ledermantel, steuerte auf den Nachbartisch zu. Keiner von beiden nahm seinen Hut ab.
Redluff versuchte hinüberzuschielen, es durchfuhr ihn. Er sah, wie der Große sich über den Tisch beugte, kurz etwas Blinkendes in der Hand hielt. Die Musik hatte ausgesetzt. «What’s he want?» hörte er den Schwarzen vom Nebentisch sagen. «What’s he want?» Das Mädchen kramte eine bunte Karte aus ihrer Handtasche. «What’s he want?» sagte abermals der Schwarze.
Der Mann war schon zum nächsten Tisch gegangen. Redluff klammerte sich mit der einen Hand an die Tischkante. Er sah, wie die Fingernägel sich entfärbten. Der rauchige Raum schien ihm jetzt ganz leicht zu schwanken, ganz leicht.
Der Große hatte seine Runde beendet und ging auf den anderen zu, der immer noch mitten im Raum stand, die Hände in den Manteltaschen. Redluff sah, wie er zu dem Großen etwas sagte. Er konnte es nicht verstehen. Dann kam er geradewegs auf ihn zu.
«Sie entschuldigen», sagte er. «Ihren Ausweis, bitte!» Redluff schaute erst gar nicht auf das runde Metall in seiner Hand. Er drückte seine Zigarette aus und war plötzlich völlig ruhig. Er wusste es selbst nicht, was ihn auf einmal so ruhig machte, aber seine Hand, die in die Innentasche seines Jacketts fuhr, fühlte den Stoff nicht, den sie berührte, sie war wie aus Holz.
Der Mann blätterte langsam den Pass durch und hob ihn in das Licht. Der Mann gab ihm den Pass zurück. «Danke, Herr Wolters», sagte er. Aus seiner unnatürlichen Ruhe heraus hörte Redluff sich selber sprechen. «Das hat man gern, so kontrolliert zu werden wie» er zögerte etwas, «ein Verbrecher!» Er hatte doch gar nicht so laut gesprochen.
«Man sieht manchmal jemand ähnlich», sagte der Mann, grinste, als hätte er einen feinen Witz gemacht. «Feuer?» Er fingerte eine halbe Zigarre aus der Manteltasche. Redluff schob seine Hand mit dem brennenden Streichholz längs der Tischkante ihm entgegen. Die beiden gingen.
Redluff lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er hätte jubeln können. Das war es, das war die Probe, und er hatte sie bestanden. Triumphierend setzte der Musikautomat wieder ein. Jetzt erhob sich Redluff um zu gehen. «He, Sie vergessen Ihren Hut», sagte der Dicke hinter der Theke. Draußen atmete er tief ein, am liebsten hätte er gesungen.
Langsam kam er wieder in belebtere Straßen, die Lichter nahmen zu, die Läden, die Leuchtzeichen an den Wänden. Aus einem Kino kamen Menschen, sie lachten und schwatzten, er mitten unter ihnen. Es tat ihm wohl, wenn sie ihn streiften. «Hans», hörte er eine Frauenstimme hinter sich, jemand fasste seinen Arm.
«Tut mir leid», sagte er und lächelte in das enttäuschte Gesicht. Verdammt hübsch, sagte er zu sich. Zeitungsverkäufer riefen die Abendausgaben aus. Hinter einer großen Spiegelglasscheibe sah er undeutlich tanzende Paare: Ewig hätte er so gehen können, so wie jetzt. Er gehörte wieder dazu, er hatte den Schritt der vielen, es machte ihm keine Mühe mehr.
Um die Kassen vor dem Einlass drängten sich Menschen. Stand dort nicht das Mädchen von vorhin? Redluff stellte sich hinter sie in die Reihe. Sie wandte den Kopf, er spürte einen Hauch von Parfüm. Dicht hinter ihr zwängte er sich durch den Einlass. Er hörte ein Gewirr von Hunderten von Stimmen.
Ein paar Polizisten suchten etwas Ordnung in das Gedränge zu bringen. Ein Mann in einer Art Portiersuniform nahm ihm seine Einlasskarte ab. «Der, der!» rief er auf einmal und deutete aufgeregt hinter ihm her. Gesichter wandten sich, jemand im schwarzen Anzug kam auf ihn zu, ein blitzendes Ding in der Hand.
Scheinwerferlicht übergoss ihn. Jemand drückte ihm einen Riesenblumenstrauß in die Hände. Zwei strahlend lächelnde Mädchen hakten ihn rechts und links unter, Fotoblitze zuckten. Und zu allem dröhnte eine geölte Stimme: «Ich darf Ihnen im Namen der Direktion von ganzem Herzen gratulieren, Sie sind der hunderttausendste Besucher der Ausstellung!»
Redluff stand wie betäubt. «Und jetzt sagen Sie uns Ihren werten Namen».
«Redluff, Jens Redluff», sagte er, ehe er wusste, was er sagte, und schon hatten es die Lautsprecher dröhnend bis in den letzten Winkel der riesigen Halle getragen.
Die Polizisten, die eben noch die applaudierende Menge zurückgehalten hatten, kamen jetzt auf ihn zu.
Die Probe · Story von Herbert Malecha · Jens Redluff
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Aventin