Die grüne Vase · Su Winter · Kurzgeschichte · Fantastik
Sie lagen im Gras unter den Bäumen, der Sommer hatte begonnen. Sie sah hinauf zu den Blättern, in denen die Sonnenstrahlen spielten.
«Phantastisch, dieses grüne Laubdach», sagte sie, «diese wundervolle Farbe». Er sah sie an. «Nicht nur schön», antwortete er dann, «sondern überaus wichtig. Blattgrün absorbiert beispielsweise radioaktive Strahlen aus der Luft. Das biologische System der Bäume schützt uns vor schädlichen Strahlungen aus dem Weltraum, um nur einen der vielen Dienste zu nennen, die uns die Bäume täglich leisten».
Er war Biologe. «Das wollte ich in diesem Augenblick nicht unbedingt wissen», entgegnete sie, «die Schönheit wollte ich nachempfinden, die der Bäume, der Farben, des Augenblicks». «Wenn du aus der Sicht deines Berufes sprichst, musst du schon gestatten, dass ich aus der Sicht meines Berufes ergänze».
«Es war nicht mein Beruf. Nur mein Empfinden». «Das ist bei dir doch alles eins, oder? Und bei mir eben auch. Du bist ein Träumer. Ich bin Wissenschaftler». Sie war Künstlerin. Versponnen und phantasiebegabt. Er war Wissenschaftler. Voller Logik und sachlicher Nüchternheit. Sie lebten in zwei sehr verschiedenen Welten und hatten doch die des anderen bewundern gelernt, ohne sie je ganz begreifen zu können.
«Auch in diesem Augenblick brauchst du den Schutz vor der Strahlung», sagte er. «Wenigstens in diesem Augenblick solltest du die Schönheit der Welt sehen», sagte sie. Ein Jahr später lernte er eine junge Dozentin kennen, die in seinem Fach an der Universität las. Sie verstanden sich sofort, waren sich verwandt von der ersten Sekunde an.
Plötzlich faszinierte ihn die Welt der Künstlerin nicht mehr. Sie war zu weit weg von ihm. Er wollte in seine Richtung gehen. Mit dieser Frau konnte er es ganz und war nicht einsam bei seiner Suche. Er fand die Worte nicht, seinen Abschied rechtzeitig zu erklären. So kam das Ende heimlich und böse, und sie erfuhr davon zunächst nur durch ihr sensibles Gespür.
Als sie, misstrauisch geworden, auf seine Wege zu achten begann, sah sie, dass es längst zu Ende war. Und es traf sie ohne Vorwarnung. Aus allen Himmeln fiel sie auf die Steine. Es war wieder Sommer. Sie ging noch einmal zu jenen Bäumen, und auf dem Weg dorthin schien es ihr, als sei er noch neben ihr wie damals. Sie legte sich in den Schatten und sah in das grüne Blätterdach hinauf.
Erst in diesem Augenblick erkannte sie, dass er für sie endgültig verloren war. Hier nun, in dieser Sekunde begriff sie es ganz. Und spürte unbeschreiblichen Hass. «Ich werde ihn umbringen», sagte sie, maßlos in ihrer Wut. Unwillkürlich dachte sie wieder an jenes Gespräch vor einem Jahr.
«Grün absorbiert radioaktive Strahlungen aus der Sonne. Und das biologische System der Bäume macht sie unschädlich», hatte er gesagt. Wie gleichgültig war das nun. Wie unwichtig, ob sie getroffen wurde von schädlicher Strahlung oder nicht. Er war nicht mehr da. Was interessierte sie da noch ein Weiterleben in solcher Einsamkeit, die ihr nun geblieben war.
«Ich werde ihn umbringen», sagte sie wieder und spürte, dass dies das einzige Ziel wurde, das ihrem Leben noch Sinn zu geben vermochte. Sie erschrak vor sich selbst, weil sie erkannte, dass es ihr bitter ernst war. Dann dachte sie wieder an das Gespräch, an die Worte, die er im Schatten der Bäume gesagt hatte. Die Erinnerung war das letzte, das sie mit ihm verband. Ihn hatte immer das Wesen der Dinge interessiert. Nicht die Farbe allein, die für sie bereits wichtig gewesen war an allem.
Sie begann nun, suchend noch, seine Gedankengänge nachzuvollziehen mit dem unbestimmten Wunsch, eine Sekunde lang Forscher zu sein, um etwas herauszufinden, das ihm zu entdecken nicht gelungen war und das sie gegen ihn richten konnte, ohne dass er es bemerken würde: Sie sah in das Laub hinauf, in dem die Sonnenstrahlen spielten und ließ sich gefangen nehmen von den flimmernden Lichtern und dem verwirrenden Hell und Dunkel der Farbe.
Nach langer Zeit erhob sie sich. «Ich werde dich umbringen», sagte sie noch einmal kalt. Wenig später begann sie eine große Vase zu bauen. All ihre verlorenen Träume, ihre ganze Liebe legte sie in die Form, und diese wurde unter ihren Händen zu einem Kunstwerk.
Sie überzog die gewölbte Oberfläche mit einem feinen Ornament, dessen Zentren winzigen Parabelspiegeln glichen. Aus der Skala all ihrer Farben griff sie dann nur eine einzige heraus, ein klares, dunkles Grün. Malte diese Farbe auf die Form und brannte sie ein.
Sein Zimmer lag nach Süden. Auf den kleinen Teetisch, mitten in die Sonne, stellte sie die große, schöne Vase. Die bauchige Form und das strahlende Grün gaben dem Raum einen neuen, eigenartigen Reiz. «Zum Abschied», sagte sie. Er küsste sie. Es rührte ihn, dass sie so großmütig sein konnte. Sie ist ein bewundernswerter Mensch, dachte er.
Er wird sterben, dachte sie. Die grüne Vase stand auf dem Tisch und spiegelte die Sonnenstrahlen wider, die reichlich in das Zimmer fielen. Die sachlichen Möbel, die er sich ausgesucht hatte, verloren sich neben eigenartigen Form, die den Raum beherrschte und den Blick bannte.
«Ein außergewöhnlich schönes Stück», sagte er, «wie kannst du es mir nur einfach schenken!» «Die Idee kam mir unter den Bäumen», sagte sie, «ich bin ein letztes Mal dort hingegangen. Es war so schön in jenem Sommer. Und die Vase soll zur Erinnerung sein». «Verzeih mir», sagte er. Sie lächelte. «Tue mir noch einen Gefallen», bat sie, «die blauen Übergardinen verderben jetzt das Gesamtbild. Bitte besorge dir grüne, am besten genau in der Farbe der Vase. Es würde ihre Wirkung noch unterstreichen».
Er ahnte nichts von dem Doppelsinn des Satzes und versprach es, da ihm die blauen Gardinen sofort selbst nicht mehr gefielen. In der Woche darauf hängte er grüne Vorhänge an die Fenster.
Wenn die Sonne zu stark schien, zog er die Gardinen zu. Durch den Stoff gedämpft, fiel moosfarbenes Licht in den Raum und fing sich in der Vase, die gespenstisch zu schimmern begann. Das feine plastische Ornament fing das fließende Licht ein und gab es als dünne, helle Strahlen zurück, seltsame Zeichen auf die Wand malend.
Wenn er an seinem Arbeitsplatz saß, fielen diese Lichter auf ihn selbst und hüllten ihn ein wie in ein zart gewebtes, grün seidenes Spinnennetz. Manchmal blendeten ihn die Strahlen sekundenlang. Dann sah er von seinen Büchern auf und betrachtete das eigenartige Gefäß auf dem Teetisch, von dem aus das Licht in den Raum strahlte. Sah auf die ebenmäßige Form und das feinsinnige, in der Sonne wie tausend kleine Spiegel leuchtende Muster.
Die grüne Vase fesselte seinen Blick für lange Zeit, und ohne er das hätte begründen können, verursachte sie ihm mit ihren Lichtern und Dunkelheiten Unruhe und zuweilen eine Angst, die ihn trieb, das Gefäß fortzunehmen aus seinem Blickfeld.
Manchmal schien es ihm, als nähme er Spannungen wahr, die aus der grünen Form auf ihn übergingen, aber er fand diese seltsamen Regungen lächerlich und beugte sich dann wieder über seine Arbeit. Flüchtig dachte er daran, dass das Kunstwerk etwas von der Unergründlichkeit seiner Schöpferin hatte. Er erinnerte sich an die Künstlerin und ihre seltsamen Phantasien, die er nie ganz begriffen hatte.
Und dann dachte er an die Frau, die er liebte, und vergaß darüber alles und war glücklich und vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Kurze Zeit darauf heiratete er. Und sein Glück war vollkommen. An die Künstlerin dachte er mit ein wenig Rührung und Dankbarkeit zurück.
Zwei Jahre später begann es, dass er sich müde fühlte, sooft er an seinem Schreibtisch saß. Er war häufig abgespannt und leicht gereizt. Schließlich bekam er Kopfschmerzen in nie gekannter Stärke, die tagelang anhielten. Appetitlosigkeit stellte sich ein, und er nahm ab. Er schob das auf Überarbeitung und griff manchmal zu schmerzstillenden Tabletten.
Als er schließlich zum Arzt ging, war es längst zu spät. Die Metastasen des Tumors hatten bereits seinen ganzen Körper befallen. Die Künstlerin hatte sich nicht verrechnet: das Grün, das nicht an das biologische System der Bäume gekettet war, hatte zwar ebenso wie diese alle Strahlung aus der Luft gesogen, um sie dann jedoch unverändert und gebündelt zurück zu schleudern auf den, der sich in ihrem Bereich befand.
Und sie kam zu seiner Beerdigung und gab seiner verzweifelten Frau die Hand. «Wie lieb, dass Sie gekommen sind», sagte sie unter Tränen, «er hat so oft und so gut von Ihnen gesprochen. Sie hatten ihm diese wunderbare grüne Vase geschenkt. Wollen Sie sie als Andenken zurücknehmen?»
«Nein», antwortete sie, «behalten Sie die Vase. Ich hatte sie damals ihm geschenkt, und jetzt gehört sie Ihnen!»
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Autor: Su Winter
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Jeder hat im Leben Dinge, die er von sich abschütteln und vergessen muss, und je eher man das tut, umso gescheiter ist es.
Fanny Lewald