Der Bär auf der Tanne · Fabel von Johann Heinrich Pestalozzi
Ein prahlerischer alter Bär erzählte einmal den jungen Bären, er wisse ein Land, in dem es so viel Honig gäbe, dass dort ein Bär den ganzen Tag nichts weiter tun müsse, als sich hinzusetzen und Honig zu lecken.
»Wir möchten nach diesem Land auswandern«, riefen sofort die jungen Bären. »Wann willst du uns in das Honigland führen?«
Der alte Bär prahlte: »Das will ich gleich tun. Aber vorher sollt ihr noch sehen, was für ein außerordentlicher Bär ich bin. Seht ihr diese Tanne dort! Soweit sie geschunden und die Rinde von Krallen zerfetzt ist, haben sie schon viele andere Bären erklommen, sind aber nie bis zur Spitze gekommen. Ich will aber jetzt ganz hinauf in den höchsten Wipfel klettern.«
Der alte Bär lief also zu der hohen Tanne und kletterte am Stamm hinauf bis zu jener Stelle, an der alle anderen Bären umgekehrt waren, weil sie nicht mehr weiter kamen. Da fing die Tanne gefährlich zu wanken an. Der alte Bär aber klomm vorsichtig und langsam immer höher.
Vielleicht wäre auch alles gut gegangen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick ein Sturm losgebrochen wäre, der brausend und fauchend durch die Bäume des Waldes fuhr.
Der Sturm warf sich mit solcher Gewalt auf den alten Bären, dass ihm Hören und Sehen verging. Mit letzter Kraft bohrte er seine blutenden Krallen tief in den Stamm.
Der Bär überlebte den Sturm, aber er konnte die tief eingebohrten Krallen nicht mehr aus dem Holz heraus ziehen. Es wurde dunkel vor seinen Augen, und er spürte, dass er da oben auf seiner Tanne sterben müsse.
Aber auch jetzt noch konnte er das Prahlen nicht lassen. Den Jungen, die klagend unten um den Baum hockten, rief er zu: »Meine große Tat ist mein Tod! Ich kann euch leider nicht mehr in das versprochene Honigland führen. Aber ihr seht und könnt es jedem bezeugen, dass auf dieser Tanne der Bär, der sich am höchsten über seine Artgenossen erheben konnte, starb!«
Der Bär auf der Tanne · Fabel von Johann Heinrich Pestalozzi · Prahlsucht
Das Leben ist eine Reise. Je weniger Gepäck man dabei hat, desto mehr Eindrücke kann man mitnehmen.
Hanna Schygulla