Blaugraue Nacht · Wolfgang Borchert · Der Regen ist ein Engel
Es ist nicht wahr, dass die Nacht alles grau macht. Es ist ein unbeschreibliches, unnachahmliches Blaugrau – das Grau für die Katzen und das Blau für die Frauen – das die Nacht so schwer und so süß ausatmet und das so berauscht, wenn es uns zwischen halb zehn Uhr abends und viertel nach vier morgens anweht.
Sanfter als der Augenaufschlag eines Babys weht uns das Blaugrau an und es weht uns um, wenn wir ein blindes hellhöriges Herz haben. Nachts ist unser Herz blind und hellhörig und dann vernimmt es den Atem der Nacht, den blumenblauen, mausgrauen Atem, der uns, die wir ein hellhöriges Herz haben, immer anweht und umwehen wird wo wir auch sind:
Riechst du das tolle betäubende Blau der Nacht du in Manhattan und du in Odessa? Riechst du das geborgen machende Grau, das die Katzen in Rotterdam und Frisco so sinnlich sehnsüchtig singen macht?
Riechst du das Graublau der verführenden Nacht, das alkoholige, sternentauige, das die verdorbensten der Marseiller Mädchen zu Madonnen macht, wenn es sich unter ihren Lidern, in ihren Locken und auf ihren Lippen verfängt?
Riechst du das nebelige, flussdunstige Blaugrau, das uns das Gestern erhüllt und das Morgen versteckt? Riechst du das, du in Altona und du in Bombay? Riechst du die Nacht und berauscht sie dich nicht? Sie berauscht dich nicht?
Reiß dir dein Herz aus, tue es und wirf es der Nacht in den süßen sinnlichen Schoß! Ihr Atem ist sanfter als der Wimpernschlag eines Mädchens und dein Herz wird aufblühen wie unter unbegreiflichem Zauber.
Die jungen Menschen, die noch nichts wissen, die alles dunkel erst ahnen und kaum beginnen, sie quälen sich nicht. Sie gehen durch die nachtvollen, durch die nachtübervollen Straßen – ziellos, wortlos, zeitlos. Vielleicht gehen sie nur zwei oder drei Stunden nebeneinander, nah nebeneinander, vielleicht gehen sie so – nah, ganz nah –, bis es anfängt, hell zu werden.
Manchmal versucht einer von ihnen ein kleines belangloses Wort, manchmal antwortet eine(r), ängstlich vor zu viel Nähe. Ach, nicht zu viel, vor so viel Nähe! Kann sein, sie kommen immer wieder dieselben Straßen gegangen und über dieselben verödeten, verhexten Plätze, die jetzt alle viel mehr da sind, weil der Tag ihnen das Gesicht nimmt.
Kann sein, sie verlaufen sich an die Peripherie des Steintieres Stadt, wo Gärten, Alleen und Parks feierlich übertaut und sonntäglich ungewohnt sind. Sie haben sich an die Peripherie der unendlichen Steinwüste (ach, von wegen Wüste!) geträumt und nun stehen sie mit erschrockenen Ohren und nassen Schuhsohlen: Oh Gott, was ist das?
Frösche. Frösche? Quaken die immer so laut? Sie singen, Lisa, sie sind verliebt. Dann singen sie so laut.
Na, Mensch, singen?
Lass sie man – ich finde das ganz nett.
Nett, ja – aber singen?
Ich glaube, sie lachen. Du, die lachen über uns!
Wieso? Über uns?
Weil es schon seit ein paar Minuten regnet – und weil wir mitten im Regen stehen und weil wir es nicht gemerkt haben. Sommerregen ist nützlich. Er macht größer, wenn man keine Mütze auf hat. Willst du größer werden?
Ich bin doch auch nicht größer. Damit ich größer bin als du, Lisa? Musst du denn größer sein als ich, du? — Ich weiß nicht. Ich finde…
Komme mir keiner und sage, dass er den Regen nicht liebe. Ohne ihn würde die Sonne uns alle ermorden. Nein, komme mir keiner – wir haben allen Grund, ihn zu lieben! Gibt es einen schöneren Gesang als einen nächtlichen Regen?
Ist irgend etwas so heimlich und so selbstverständlich, so geheimnisvoll und schwatzhaft wie der Regen in der Nacht? Haben wir Menschen so abgestumpfte Ohren, dass wir nur noch auf Strassenbahnklingeln, Kanonendonner oder Konzerte reagieren?
Vernehmen wir nicht mehr die Symphonien der tausend Tropfen, die bei Nacht auf das Pflaster plauschen und rauschen, lüstern gegen Fenster und Dachziegel flüstern, die den Millionen Mücken Märchen auf die Blätter, unter denen sie sich verkrochen haben, leise dommeln und trommeln, uns durch die dünnen Sommerkleider auf die Schultern tropfen und klopfen oder mit winzigen Gongschlägen in den Strom glucksen? Vernehmen wir nichts mehr anderes als unser eigenes lautes Getue?
Aber den halb erwachten Kindern erzählt der Regen noch immer Geschichten in der Nacht. Für die Kinder lacht und weint er nachts gegen die Scheiben – gegen ihre kleinen rosigen Ohren. Und er tröstet sie wieder in ihr Traumland zurück.
Jauchzen nur noch die Kinder über Pfützen und überschwemmte Rinnsteine? Lachen nur noch die Kinder über die dicken, dicken Tropfen, die auf der Nase zerplatzen? Liegen nur noch die Kinder andächtig ängstlich wach, wenn der Regen draußen die selbstverständlichsten Geheimnisse der Welt austratscht? Macht der Regen nur noch Kinderaugen still und groß und blank?
Dann wollen wir die dumme abgetragene, aufgeblasene Würde des Erwachsenseins wie eine vermottete Wolljacke ausziehen und auf einen großen Haufen werfen und verbrennen – und uns den himmlischen Regen, den Sohn der See und der Sonne, durch die Locken ins Hemd laufen lassen. Komme keiner und sage, das wäre keinen Schnupfen wert!
Der Gemüsemann unten schimpft keinen Augenblick, als die erste Legion Tropfen in geschlossener Formation die Kellertreppe abwärts strömt und ihn aus dem Schlaf plätschert. Er knufft seine Frau in die gepolsterten Rippen, bis sie die Augen aufmacht, und dann schleppen sie beide ohne zu mucken die schweren, vollen Gemüse– und Obstkisten aus dem Laden raus in den engen Hinterhof. An dem langen heißen Tag war alles welk und traurig geworden. Bis morgen früh würde der Nachtregen eine gute Dusche sein für den staubigen Inhalt der Kisten.
Der Regen klatscht noch ein paar Stunden mit unzähligen nassen Lappen gegen die Hauswand und in den Hof – die Gemüseleute sind längst wieder eingeschlafen. Ihre breiten apfeligen Gesichter sehen beinahe ebenso zufrieden aus den Kissen wie der alte Unterrock, den die Frau unter die Treppe gelegt hat. Behaglich, wollüstig, selig liegt er in den Legionen herunterkleckernder Tropfen, die die tollsten Dinge von draußen wissen – so begierig ist der blaue Wollunterrock auf die wahren Begebenheiten der unwahren Welt, dass er den Regen aufsaugt, bis er sich tot gelogen hat.
Am Morgen wird die Treppe trocken sein – aber der alte Rock wird dick und geschwollen sein wie eine große, große Kröte!
Und in einem Hauseingang: Ich finde es schick, dass wir jetzt so eine gute Ausrede haben. Bei dem Regen konnten wir unmöglich pünktlich nach Hause kommen. Ich finde es prachtvoll – du auch?
Wo du bist, ist es immer schick! Aber du frierst – soll ich dir meine Jacke geben? Natürlich, damit du morgen krank bist. Komm, leg sie uns beiden über, dann können wir uns gegenseitig wärmen.
Die Frösche singen immer noch, hörst du? Meinst du, der Regen hat ihre Liebe noch nicht abgekühlt? Meinst du, der Regen kann Liebe abkühlen? Och, ich weiß ja nicht, wie ehrlich die Frösche es mit ihrem Gesang meinen. Ausdauer haben sie jedenfalls. Meine Liebe könnten keine zehn Wolkenbrüche abkühlen, im Gegenteil!
Aha. Wen liebst du denn so innig, hm? Ob, jemanden, der mit aufgeweichten Locken und nassen Füßen unter meiner Jacke zittert. Du, wir wollen lieber nicht davon reden, jetzt nicht, ja? Hier ist es so dunkel und so einsam und wir stehen so dicht zusammen – genügt das nicht? Lass uns still sein, bitte. Das ist doch auch viel schöner, nicht, du?
Es regnet, es ist dunkel und einsam und wir stehen dicht zusammen – ja, klar – das ist schön!
Nach siebenundzwanzig Minuten:
Du, der Regen ist ein Engel! Meine Mutter hatte mächtig getobt, wenn sie gemerkt hatte, dass ich mich angemalt habe. Eben siebzehn Jahre geworden und anhübschen wie eine – wie so eine, weisst du, das sagt die Mutter. Jetzt hat der Regen alles abgeleckt und ich brauche mein Taschentuch nicht dreckig zu machen. Ist der Regen nicht ein Engel?
Nach elf Minuten:
Willst du noch nach Hause, Lisa? Nee. Du? Mensch, wenn das einer hören würde: Wir wollen beide nicht mehr nach Hause! Ja, du, der Regen ist ein Engel!
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Autor: Wolfgang Borchert
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Jeder hat im Leben Dinge, die er von sich abschütteln und vergessen muss, und je eher man das tut, umso gescheiter ist es.
Fanny Lewald