Tante Wilmas Rechenexempel

Tante Wilmas Rechenexempel · James Thurber · Novelle

Im Markthallenviertel von Columbus, Ohio, auf der südlichen Seite der Town Street, lag vor fünfundvierzig Jahren, als ich ein kleiner Junge war, das Lebensmittelgeschäft von John Hance, schon damals ein sehr alter Laden.

Die Schuhsohlen dreier Kundengenerationen hatten die breiten Eichendielen blank gewetzt. Es roch nach Kaffee, Pfefferminze, Essig und Gewürzen. Gleich links an der Tür befand sich der Ladentisch, auf dem hinter einer gewölbten Glasscheibe all die wohlfeilen Süßigkeiten von anno dazumal zu sehen waren: Gummibonbons, Lakritzstangen, Johannisbrot und was es sonst noch alles gab, manches schon ein bisschen altersgrau. An der Rückwand des Ladens, zwischen einem Fass Gewürzgurken und einer Tonne Salzheringe, stand eine eiserne Kaffeemühle, deren Griff ich manchmal drehen durfte.

Einmal schenkte mir Mr. Hance ein Lutschbonbon und bewies damit eine erstaunliche Freigiebigkeit, denn er hielt den Penny hoch in Ehren. Das Geld war sein Abgott. Er verkaufte grundsätzlich nur gegen bar. Die Telefonkosten teilte er sich mit seinem Nachbarn, dem Stellmacher Hayes. Der Apparat stand in einem schwenkbaren Holzkasten, so dass er durch ein Öffnung in der Wand hinüber und herüber geschoben werden konnte.

Ich, der Zehnjährige, lungerte samstags nachmittags gern im Laden herum und wartete darauf, dass der Apparat durch die Wand verschwand. Dann wartete ich, bis er wieder zum Vorschein kam. Ich hielt das für Zauberei und war tief enttäuscht, als ich erfuhr, dass dieses Hin und Her einem höchst prosaischen Zweck diente, nämlich dem, monatlich ein paar Dollar zu sparen.

Mr. Hance war schon an die Siebzig, ein kleiner Mann mit weißem Haar, weißem Schnauzbart und so lebhaften Augen, wie ich sie noch bei keinem anderen Menschen gesehen habe, höchstens bei Tante Wilma Hudson.

Tante Wilma wohnte in der südlichen Sixth Street und kaufte regelmäßig bei Hance ein. Mr. Hance hatte blaue Augen, deren scharfer, fester Blick einem durch und durch ging. Tante Wilma hatte schwarze Augen, die ständig in Bewegung waren und jedermann mit unverhohlenem Argwohn musterten.

In der Kirche schossen ihre Blicke von einem zum anderen, spähten nach Männern aus, deren Andacht zu wünschen übrig ließ, und nach Frauen, deren Mienen an dieser heiligen Stätte von weltlichen, wenn nicht gar fleischlichen Gedanken zeugten.

Sichtete sie so eine sündige Seele, dann zog sie in gerechtem Abscheu die dichten schwarzen Brauen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Ihre Seele war lauter wie der lichte Tag; in ihrem Geist aber herrschte, sobald es um das ging, was sie Rechenexempel nannte, aller schwärzeste Nacht. Die Zusammenstöße, die sie in dieser Beziehung mit Mr. Hance hatte, waren häufig Familiengespräch.

Der Kaufmann war ein flinker, sicherer Rechner. Nahezu fünfzig Jahre ständiger Übung hatten ihn befähigt, seine Zahlenreihen blitzschnell, sozusagen auf einen Blick zu addieren. Die einzelnen Posten pflegte er rasch mit einem Bleistiftstummel auf einer leeren Tüte zu notieren.

Tante Wilma dagegen kam mit ihren Rechenexempeln nur langsam und mühevoll zu Rande. Die Brille fast auf der Nasenspitze, so rechnete und rechnete sie und bewegte dabei stumm die Lippen. Für sie haftete den arithmetischen Künsten der Männer wie auch allen anderen typisch männlichen Eigenschaften etwas Gottloses an.

Mr. Hance stieß immer einen tiefen Seufzer aus, wenn er sie in den Laden treten sah. Er wusste aus trüber Erfahrung, dass sie eine einfache finanzielle Transaktion in das nur ihr zugänglich mystisch dunkle Reich der Konfusion befördern konnte.

Eines Tages – man schrieb das Jahr 1905 – war es mir vergönnt, einen Zusammenstoß von Mr. Hances routinierter Rechenkunst und Tante Wilmas mühsamer Zahlenklauberei mitzuerleben. Es war ein einzigartiger Kampf, der mir unvergesslich geblieben ist.

Tante Wilma hatte mich überredet, sie zu begleiten und die Markttasche zu tragen, die ihr bei den vielen Besorgungen zu schwer werden würde. Eigentlich hatte ich ihre Enkel besuchen wollen, Jungen in meinem Alter, aber die beiden waren schon ausgeflogen, als ich kam, und so belegte mich Tante Wilma prompt mit Beschlag. Ein »Bürschchen« – das war für sie jeder unter siebzehn – hatte ihrer Meinung nach im Haushalt zu helfen, sonst war es keinen Pfifferling wert.

Sie hatte mich schon mehrmals zum Einkaufen mitgeschleppt, und ich wusste, dass sie am Samstag stets ihren Weg durch die Fourth Street nahm, die an diesem Tag von Marktständen gesäumt war. Damals war alles noch unglaublich billig, aber Tante Wilma beanstandete unweigerlich den Preis, die Qualität und das Gewicht der Waren.

Als sie lange genug um mehrere ländliche Produkte gefeilscht hatte, bogen wir in die Town Street ein und steuerten Mr. Hances Laden an. Mir tat von der schweren Tasche schon der Arm weh. »Komm doch, Kind, mach zu!« feuerte Tante Wilma mich an. In ihren Augen lag der entschlossene Ausdruck der Hausfrau, die einen harten, aber gerechten Kampf mit den bösen Mächten der Handelswelt führt.

Ich sah, wie Mr. Hance bei unserem Erscheinen unwillkürlich eine kleine abwehrende Handbewegung machte. Aber er hatte gerade eine Kundin abgefertigt und musste, da sein Gehilfe anderweitig beschäftigt war, wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und Tante Wilma bedienen.

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sie ihre Einkäufe getätigt hatte, aber schließlich war alles, was sie brauchte, in Tüten, Dosen und Schachteln auf dem Ladentisch zusammengetragen. Mr. Hance legte die Waren eine nach der anderen in die Markttasche und notierte dabei den jeweiligen Betrag auf einer Tüte.

Tante Wilma beobachtete seinen flinken Bleistiftstummel mit den lauernden Blicken eines Baseballfans, der dem Schiedsrichter nicht über den Weg traut. In männlicher Fixigkeit sah sie nicht so sehr Gewandtheit wie Gerissenheit.

Es macht achtundneunzig Cent. Mr. Hance, der Tante Wilma zur Genüge kannte, schob ihr nach dem Addieren die Tüte zu. Es dauerte einige Zeit, bis sie, tief über die Zahlen gebeugt und angestrengt durch die Brille spähend, ihr Rechenexempel beendet hatte und Mr. Hances Ergebnis zögernd bestätigte.

Obwohl alles in Ordnung zu sein schien, fing sie noch einmal von vorn an und zählte die Zahlen mit stimmlos redenden Lippen ein zweites Mal zusammen. Mr. Hance wartete geduldig, die Handflächen auf den Ladentisch gestützt, und beobachtete fasziniert ihre Lippenbewegungen.

»Also – ich glaube, es stimmt«, sagte Tante Wilma schließlich. »Aber Preise sind das wieder, Preise!«

Dabei kosteten die vielen Dinge, die ihre Markttasche dick anschwellen ließen, weniger als einen Dollar.

Tante Wilma holte ihre Geldbörse hervor, entnahm ihr langsam einen Dollarschein und reichte ihn über den Ladentisch, als wäre es eine Hundertdollarnote, die da auf Nimmerwiedersehen entschwand.

Mr. Hance drückte mit geübter Hand die Tasten der Registrierkasse, drehte die Kurbel, und hinter der Glasscheibe erschien der Betrag: 00,98$. Gleichzeitig schnellte die Schublade heraus. Er musterte den Inhalt der Kasse. »Hm, zu dumm«, brummte er. »Hab kein Kleingeld mehr.« Er wandte sich Tante Wilma zu. »Haben Sie zufällig drei Cent, Mrs. Hudson?«

So fing es an.

Tante Wilma warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Sie schulden MIR doch zwei Cent«, sagte sie scharf.

Mr. Hance seufzte. »Ja, ich weiß, Mrs. Hudson. Aber mir sind die Pennystücke ausgegangen. Wenn Sie drei Cent hätten, könnte ich Ihnen einen Fünfer zurückgeben.«

Tante Wilma sah ihn nachdenklich an.

»Stimmt schon, Tante«, mischte ich mich ein. »Du gibst ihm drei Cent und kriegst dafür einen Fünfer.«

»Still, Bürschchen«, befahl sie. »Stör mich nicht bei meinem Rechenexempel.« Ihre Lippen begannen wieder zu arbeiten. Mr. Hance nahm ein Fünfcentstück aus der Kasse und legte es auf den Ladentisch. »So«, sagte er mit fester Stimme, »da ist Ihr Nickel. Und jetzt bekomme ich von Ihnen drei Cent.«

Tante Wilma fingerte in ihrer Geldbörse herum, entdeckte drei Pennies, brachte sie einen nach dem anderen behutsam ans Tageslicht und legte sie neben das Fünfcentstück.

Mr. Hance wollte nach den Kupfermünzen greifen, aber Tante Wilma war schneller und deckte ihre knochige Hand über die acht Cent.

»Augenblick mal«, sagte sie, zog langsam die Hand zurück und brütete nun eine Weile über den vier Geldstücken, als hätte sie eine schwierige Bridgekarte vor sich liegen. Sie rieb die Unterlippe an der oberen Zahnreihe. »Vielleicht – wenn ich Ihnen nun ein Zehncentstück gäbe und mir diese acht Cent nähme… nicht wahr, Ihnen fehlen doch ZWEI CENT?« fragte sie.

Bei Mr. Hance zeigten sich Spuren einer leisen Erregung. Ein paar Kunden beobachteten uns aus dem Augenwinkel und grinsten verstohlen.

»Nein«, sagte er. »Nein. Auf diese Weise würden Sie mir ja sieben Cent schenken.«

Das war zuviel für Tante Wilma. Sie begriff nicht, woher diese sieben Cent kamen, die Mr. Hance plötzlich und scheinbar unmotiviert in die Diskussion warf. Und die Vorstellung, sich beinahe um sieben Cent gebracht zu haben, erschütterte sie so sehr, dass ihr Blick glasig wurde wie der eines schwer angeschlagenen Boxers.

Mr. Hance und ich schwiegen. Wir hatten Angst, jedes weitere Wort werde die Verwirrung noch steigern.

Jetzt streckte Tante Wilma unsicher die Hand aus, und mich durchzuckte der wahnwitzige Gedanke, sie wolle Mr. Hance einen der Pennies zuschieben und die übrigen sieben Cent einstreichen. Aber nein – sie zog die Hand zurück und ging mit dem Rätsel der sieben Cent in einen stummen Clinch. Auf einmal erhellte sich ihr Blick.

»Ja, natürlich!« rief sie strahlend. »Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist! Natürlich, Sie nehmen die acht Cent und geben mir einen Zehner – dann habe ich ja die zwei Cent, die mir zustehen.«

Einer der Kunden lachte laut auf. Tante Wilma schleuderte ihm einen durchbohrenden Blick zu, und ich berechnete inzwischen, dass Mr. Hance, der soeben noch um ein Haar sieben Cent gewonnen hätte, nunmehr Gefahr lieb, fünf Cent zu verlieren.

»Auf die Art würde ich Ihnen fünf Cent schenken, Mrs. Hudson«, sagte er steif.

Die beiden standen sich regungslos gegenüber. Jeder versuchte, mit seinem Blick den Gegner nieder zu zwingen.

»Sehen Sie mal, Mrs. Hudson«, sagte Hance schließlich, nahm Tante Wilmas Dollarschein aus der noch offen stehenden Schublade und legte ihn neben das Fünfcentstück und die drei Pennies. »Sehen Sie mal«, wiederholte er, »Sie haben mir einen Dollar und drei Cent gegeben, aber Sie schulden mir nicht einen Dollar und drei Cent – Sie schulden mir fünf Cent weniger. Hier, das sind die fünf Cent.«

Er nahm den Nickel und reichte ihn ihr. Sie hielt die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger, und ihre Augen leuchteten auf, als hätte sie den schwierigen Handel endlich begriffen. Gleich darauf aber erlosch das Leuchten. Sie gab Mr. Hance den Nickel zurück und griff sich den Dollarschein und die drei Pennystücke. Die Münzen steckte sie in ihre Börse.

»Ich habe die achtundneunzig Cent doch schon registriert, Mrs. Hudson«, stieß Hance hervor. »Ich muss den Dollar wieder in die Kasse legen!«

Er deutete auf die 00,98$ hinter der Glasscheibe.

»Wissen Sie was, Mrs. Hudson«, fuhr er fort, als sie sich nicht rührte, »geben Sie mir den Dollar und nehmen Sie den Nickel, und dann soll`s gut sein.«

Tante Wilma war offensichtlich weder geneigt, den Fünfer zu nehmen noch den Dollar herauszurücken, fand sich jedoch nach längerem Zögern zu dem Tausch bereit. Ich starrte Mr. Hance entgeistert an. Wie konnte ein Mensch, der jeden Penny dreimal umdreht, so mir nichts, dir nichts drei Cent von der Rechnung abstreichen? Dann verstand ich. Er hatte befürchtet, den Dollar nicht wieder zu bekommen, und daher lieber das kleinere Übel gewählt.

»Also jetzt werde ich aus der Sache überhaupt nicht mehr schlau«, rief Tante Wilma gereizt.

Ich war ein schüchterner Junge, aber mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich in das Kampfgetümmel zu stürzen. Es ging um die Ehre der Familie.

»Hör mal, Tante Wilma«, sagte ich. »Wenn du den Nickel behältst, gibt er dir ja alles für fünfundneunzig Cent.«

Mr. Hance sah mich missbilligend an. Aus seinem Blick sprach die Besorgnis, dass ich die Dinge noch mehr komplizieren könnte.

»Schon gut, mein Sohn«, sagte er beschwörend. »Schon gut.«

Er legte den Dollarschein in die Kasse und schloss die Schublade mit einem energischen Knall.

Ich aber dachte nicht daran, die Flagge zu streichen.

»Tante Wilma«, rief ich empört, »du schuldest Mr. Hance noch drei Cent – begreifst du das nicht?«

Sie maß mich mit dem nachsichtigen Blick müder, überlegener Intelligenz.

»Ich habe Mr. Hance noch nie im Leben drei Cent geschuldet«, sagte sie ungnädig. »er schuldet mir zwei Cent. Misch dich nicht in Dinge, von denen du nichts verstehst.«

»Schon gut, schon gut, wiederholte Mr. Hance matt. Er wusste: Wenn sie jetzt die drei Pennystücke aus ihrer Börse kramte, würde sie ihren Dollar zurück haben wollen, und dann wäre man genau da, wo man angefangen hatte.

Ich starrte meine Tante betroffen an.

»Augenblick mal!« rief sie plötzlich. »Vielleicht habe ich doch passendes Geld – ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist, dass ich nicht gleich daran gedacht habe. Augenblick mal, ich meine…«

Sie legte den Nickel, den sie in der Linken gehalten hatte, auf den Ladentisch zurück, durchwühlte ihre Börse und zählte nach langer, gründlicher Suche zwei Vierteldollarstücke, vier Zehncentstücke, Mr. Hances Nickel und die drei Pennies auf.

»Bitte!« sagte sie triumphierend. »Achtundneunzig Cent! Und nun geben Sie mir meinen Dollar wieder.«

Ein Stöhnen entrang sich Mr. Hances Brust. Er drückte auf die Taste ‚Kein Verkauf‘, nahm den Dollarschein aus der aufspringenden Kasse und reichte ihn Tante Wilma. Dann scharrte er hastig die Münzen zusammen, verteilte sie in die Fächer und knallte die Schublade zu.

Ich war damals erst zehn und im Kopfrechnen durchaus keine Leuchte. Trotzdem erfasste ich sofort, dass Mr. Hance bei dieser Regelung nicht nur drei, sondern sogar fünf Cent eingebüßt hatte.

»Guten Tag, Mrs. Hudson«, sagte er grimmig.

Er merkte, dass ich ihn teilnahmsvoll ansah, und wir tauschten einen kurzen Mannesblick heimlichen Einverständnisses.

»Guten Tag, Mr. Hance«, sagte Tante Wilma ebenso grimmig.

Ich nahm die Markttasche vom Ladentisch, und Mr. Hance stöhnte noch einmal auf, diesmal vor Erleichterung.

»Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« Er heuchelte Herzlichkeit, war aber sichtlich froh, uns loszuwerden. Ich hatte das Gefühl, ich müsse ihm die Petersilie zustecken oder irgendeine andere Ware, die fünf Cent gekostet hatte.

»Komm, Kind, beeil dich«, sagte Tante Wilma. »Es ist ja furchtbar spät geworden. Heute hat das Einkaufen wieder mal ewig gedauert.«

Im Hinausgehen murmelte sie ununterbrochen Beschwerden vor sich hin. Als ich die Tür hinter uns schloss, sah ich gerade noch, wie sich Mr. Hance dem nächsten Kunden zuwandte. Der Mann sagte etwas und lachte. Mr. Hance blickte finster drein und zuckte mit den Achseln.

Draußen auf der Straße machte Tante Wilma ihrem Ärger Luft.

»So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen«, entrüstete sie sich. »Ich möchte bloß wissen, wo John Hance zur Schule gegangen ist – wenn er überhaupt zur Schule gegangen ist. Wie kann ein erwachsener Mensch derart konfus sein? Das ist ja unglaublich! Man könnte sich den ganzen Tag hinstellen und es ihm immer wieder erklären, und trotzdem würde er’s nicht kapieren. Na, meinetwegen soll er die zwei Cent behalten. Hauptsache, wir sind endlich aus diesem Laden heraus.«

»Welche zwei Cent, Tante Wilma?« fragte ich. Mein Stimme überschlug sich fast.

»Mein Gott, die zwei Cent, die er mir immer noch schuldet«, erwiderte sie. »Ich möchte bloß wissen, was ihr Bürschchen heutzutage in der Schule lernt. Zwei Cent ist er mir schuldig geblieben, das ist doch sonnenklar. Es machte achtundneunzig Cent, und ich habe ihm einen Dollar gegeben. Also hat er mir von Anfang an zwei Cent geschuldet, und dabei ist es geblieben. Onkel Herbert wird’s dir erklären, wenn wir nach Hause kommen. Jeder Mensch auf der Welt kapiert das, nur John Hance nicht!«

Ich ging schweigend neben ihr her und dachte an Onkel Herbert, einen Mann mit gelichtetem Haar, der leicht aufbrauste und zur Ungeduld neigte.

»Dass du es aber mir überlässt, Onkel Herbert die Sache auseinanderzusetzen«, sagte Tante Wilma plötzlich. »Du hast dich nämlich genauso dumm angestellt wie John Hance. Du wolltest, dass ich ihm die drei Cent gebe, aber dann hätte ich nie im Leben meinen Dollar zurückbekommen, und er wäre mir jetzt nicht zwei, sondern fünf Cent schuldig, das ist doch so klar wie nur sonst was.«

Jetzt glaubte ich, sie überzeugen zu können, und schoss los.

»Jawohl, Tante Wilma! rief ich. »Jawohl! Er schuldete dir fünf Cent, einen Nickel. Und den hat er dir ja auch gegeben.«

Tante Wilma brachte mich mit einem entrüsteten Blick zum Schweigen. »Den Nickel habe doch ICH ihm gegeben. Vor deinen sehenden Augen hat John Hance ihn an sich genommen.«

Ich hängte mir die Markttasche über den anderen, den linken Arm.

»Das stimmt, Tante Wilma. Aber es war ja auch sein Nickel, nicht deiner.«

»Du meine Güte«, schnaubte sie, »er hat ihn ja wiederbekommen, seinen kostbaren Nickel, nicht wahr?«

Ich nahm die Markttasche in die rechte Hand. Mir schien, dass aus Tante Wilmas Ton eine leichte Unsicherheit klang. Sie verfiel in Schweigen und beschleunigte ihr Tempo, so dass ich kaum mit ihr Schritt halten konnte. Als wir in die Sixth Street einbogen, zeigte mir ein rascher Seitenblick, dass sie wieder mit finsterer Miene die Lippen bewegte. Sie legte sich wohl die Worte zurecht, in denen sie Onkel Herbert von der merkwürdigen Transaktion erzählen wollte.

Ich pfiff vor mich hin.

»Still, Kind«, sagte sie. »Stör mich nicht. Ich bin bei einem Rechenexempel.«

Onkel Herbert saß im Wohnzimmer und aß einen Apfel. Ich sah ihm an, dass er ausnahmsweise gut gelaunt war. Tante Wilma nahm mir die Markttasche ab.

»Überlasse es mir, deinem Onkel die Sache zu erklären«, sagte sie.

»Wartet bitte, ich bin gleich wieder da.«

Sie segelte aus dem Zimmer mit Kurs auf die Küche.

Atemlos erzählte ich Onkel Herbert das Epos von Tante Wilmas finanztechnischen Nöten. Bei ihrer Rückkehr hörte sie ihn leise glucksend lachen, und es wurmte sie, dass er so vergnügt war.

»Der Bengel hat die Sache überhaupt nicht kapiert«, sagte sie mit einem strafenden Seitenblick auf mich. »Ich bin sicher, dass er alles durcheinander gebracht hat – er ist ja genau so ein Konfusionsrat wie John Hance!«

Jetzt brach Onkel Herbert in schallendes Lachen aus. Tante Wilma sah ihn starr an, bis er verstummte.

»So«, sagte sie dann. »Nun hör mir einmal gut zu, Herbert…«

Er ließ sie nicht ausreden. «Für den Fall, dass Hance dir einmal die zwei Cent gibt, die er dir schuldet, will ich dir sagen, was du tun musst, damit ihr quitt seid, Wilma. Du musst ihm dann auf drei Pennies ein Zehncentstück herausgeben.« Er brach von neuem in Lachen aus.

Mit einem Ausdruck kalter Verachtung blickte Tante Wilma abwechselnd ihn und mich an. Dann hob sie die Hände und ließ sie hilflos sinken.

»Also wirklich«, verkündete sie, »es ist ein Wunder, dass sich die Welt noch dreht, obgleich sie von Männern regiert wird.«

Tante Wilmas Rechenexempel · James Thurber · Novelle

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Autor: James Thurber

Bewertung des Redakteurs:
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Lass dir am Bewusstsein genügen, deine Pflicht getan zu haben! Andere mögen es erkennen oder nicht.

Christoph Martin Wieland