76 · Wandlung des ICH · Alltagspsychologie

Wandlung des ICH · Alltagspsychologie · R.M.F

Wir würden die meisten Maskeraden und Räusche nicht richtig verstehen, wenn wir in ihnen nur bewusstes ästhetisches Spiel sehen würden und nicht die Sehnsucht nach wirklicher Wandlung erkennen wollten.

Eine Wandlung, die das ICH in seinen Tiefen umformt, so dass der »alte Adam« (Martin Luther) abgetan, man wiedergeboren und erlöst wird, wie es fast alle Religionen erhoffen, wie es die Sittlichkeit fordert, deren Sinn ja nicht bloß äußeres Befolgen ihrer Gebote, sondern innere Umbildung des Menschen ist.

Also dass es nicht mehr zu heißen braucht, du sollst nicht töten, sondern dass es heißt: du kannst nicht töten!

Letzten Endes sind alle Masken und alle Räusche nur unzulängliche Mittel, deren Unzulänglichkeit schmerzlich empfunden oder resigniert hingenommen wird, Versuche, zu wirklicher Wandlung zu gelangen.

Wir lesen in religiösen Schriften oft von plötzlichen Bekehrungen, die den ganzen Menschen gleichsam für immer umgeformt, die aus einem Saulus einen Paulus gemacht hätten.

Sicherlich ist für das Bewusstsein jener Personen dieses Erlebnis echt, ein Erlebnis, das blitzartig gleichsam eine neue Seele in den alten Leib hinein senkt.

Die Frage ist nur, ob auch die unterbewusste seelische Struktur damit anders geworden ist und ob diese durch solchen Zauberschlag eine neue Form erhalten kann.

Und hier müssen wir Zweifel anbringen. Jenes blitzartige Erlebnis ist in der Regel nur der Durchbruch einer langen bereits vorbereiteten Wandlung, ja oft ist die innere Struktur ganz die gleiche geblieben, sie hat sich nur neuen Inhalten zugewandt.

Saulus war schon lange ein Paulus, ehe er nach Damaskus ging, und er ist auch als Paulus stets der eifernde und leidenschaftliche Saulus geblieben, nur dass er jetzt für Christus und nicht gegen Christus seine tiefe, eifernde Religiosität betätigte.

Wer Schriften von Tolstoi liest, die er vor seiner Bekehrung verfasst hat, sieht, dass sich darin schon seit langem die Bekehrung anbahnt, er sieht aber auch, wenn er die späteren Schriften liest, dass der frühere Tolstoi nicht tot ist, sondern nur in anderer Richtung weiterlebt.

Man darf Richtungsänderung nicht mit Wesensänderung verwechseln.

Und doch ist Wandlung auch des Wesens möglich, ja sie geschieht immer und überall. Wir wandeln uns täglich, ja stündlich, in so unendlich kleinen Schritten, dass sie uns nur selten bewusst werden.

Jede Tat, die wir tun, ist der Ansatz zu einer Gewohnheit, jedes Erlebnis, das wir haben, wirkt irgendwie dispositionsbildend; es kommt nur darauf an, wie tief solche Gewohnheiten und Dispositionen hinabreichen in die Struktur der Seele, diese Struktur, die ja auch nichts anderes ist als ererbte Gewohnheit und Disposition.

Alle diese infinitesimalen Änderungen (zum Grenzwert hin unendlich klein werdend), gehen tief unter der Schwelle des Bewusstseins vor sich, und das Bewusstsein selbst täuscht sich oft genug über diese dunklen Wandlungen, bis es ihrer plötzlich inne wird.

Soweit diese Wandlungen vom bewussten Willen geleitet werden, und das ist ja der Sinn aller Ethik, geschieht das am besten, indem das Ziel der Änderungen sich in einem Idealbild verdichtet, dem das ICH sich anzunähern sucht.

Die Wirkung dieses Idealbildes aber ist die, dass das ICH alles ablegt, was jenem widerspricht, dass es in sich zu verwirklichen sucht, was zum Wesen dieses Ideals gehört.

Das gelingt nicht mit einem Schlag, sondern will langsam erobert werden. Und zwar geschieht das in der Weise, dass man die fremde ICH-Rolle zunächst als solche übernimmt und sich immer mehr in sie hineinlebt und schließlich aus ihr herauslebt.

Das ist ja der Sinn der christlichen Forderung, dass man Jesu in sich aufnehmen soll. Eine solche übernommene Rolle ist Maske nur dann, wenn sie nur gelegentlich, zum Zweck der Irreführung anderer getragen wird, sie kann aber auch zur Wiedergeburt führen, wenn das alte ICH sich ihr ganz und dauernd unterordnet.

Wie schwer das Ganze ist, lehrt die Lebensgeschichte jedes frommen Menschen, und doch zeigen solche Lebensläufe auch, in wie hohem Grad es ernstem Willen gelingt, eine dauernde Wandlung zu erzielen und dem Ideal sich wenigstens anzunähern, wenn es auch niemals ganz erreicht wird.

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Autor: R.M.F

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Gefühle kommen und gehen wie Wolken am Himmel. Das achtsame Atmen ist mein Anker im Hier und Jetzt.


Thích Nhất Hạnh