Verstellung und Beherrschung

Verstellung und Beherrschung des Ausdrucks · Alltagspsychologie

Es widerspricht nun nicht allem, was wir über den notwendigen Zusammenhang zwischen Seele und Leib gesagt haben, der Umstand, dass man sich »verstellen«, das heißt einer seelischen Stimmung einen ihr nicht entsprechenden körperlichen Ausdruck geben kann. Ja es gibt Leute, die sogar berufsmäßig und als Kunst Erlebnisse zur Schau stellen, die sie in ihrer wahren Existenz nicht haben.

Beruht unser gesellschaftliches Leben nicht auch darauf, dass man seine Gefühle mehr verbirgt als dass man sie deutlich zum Ausdruck bringt? Würde nicht über die meisten unter uns, wenn man ihnen wirklich ihre Gedanken über den lieben Nächsten vom Gesicht lesen könnte, ein Hagel von Beleidigungsklagen nieder prasseln?

Es liegt uns fern, die Tatsache der »Verstellung« oder wie man mit anderem Wert-Akzent sagt, der »Beherrschung«, zu verkennen. Freilich ist die Verstellung, wenn sie nur Verstellung ist, das heißt bewusst heuchlerisches Gebaren, in der Regel sehr unvollkommen. Wer etwas zur Schau stellen will, was er innerlich nicht erlebt, täuscht damit in der Regel nur schlechte Menschenkenner. Denn er kann willkürlich nur einen Teil der gesamten Ausdrucksmimik abändern: der Rest jedoch straft ihn Lügen, oft auch schon die gewaltsame Art, mit der er seine Verstellung vornimmt.

Wer Keckheit mimen will, aber innerlich schüchtern ist, verrät sich trotz lauten Auftretens durch die Hautfarbe oder das Zittern der Stimme; wer sich bei innerer Dreistigkeit bescheiden zu stellen versucht, ist doch am Blick oder einer unwillkürlichen Geste zu durchschauen, und die Frömmelei ist von wirklicher Frömmigkeit in der Regel schon an den unechten Akzenten, am allzu dicken Farbauftrag zu erkennen.

Trotzdem gibt es auch gute Schauspieler im Leben wie in der Wirklichkeit. Indessen würde man das Wesen des Schauspielers vollkommen verkennen, wollte man es in der Verstellung sehen, das heißt im Darstellen von etwas, was er innerlich nicht erlebt, während seine Kunst gerade im möglichst plastischen Darstellen dessen beruht, was er innerlich erlebt.

Wer viel mit Schauspielern verkehrt hat, weiß sogar, dass keine Menschenklasse sich so schlecht verstellen kann, mit solcher Deutlichkeit alle inneren Erregungen nach außen projiziert wie die Schauspieler.

Der Grund ist leicht einzusehen: von der Bühne her gewohnt, jedem Affekt den stärksten, sichtbarsten Ausdruck zu verleihen, können sie diese Gewohnheit auch im Leben nicht plötzlich ablegen, wie sie die Schminke in der Garderobe abwischen. 

Wesentlich für den Schauspieler ist nicht, dass er dort einen Ausdruck findet, wo er innerlich nichts erlebt, als vielmehr, dass er innerlich etwas zu erleben vermag, wo der Durchschnittsmensch von Verstellen redet. Der gute Schauspieler stellt nicht etwas dar, was er nicht ist, nein, er wird zu dem, was er darstellt.

Kainz, der den »Armen Heinrich« spielte, fühlte sich während des Spiels nicht als Kainz, sondern als den »Armen Heinrich«. Und darin, in diesem Sicheinleben in die fremde Ich-Rolle, beruhte sein »Talent«.

Aber noch mehr: der mimische Ausdruck ist für ihn nicht ein Mittel, ein Erleben vorzutäuschen; er ist im Gegenteil ein Mittel, dieses Erleben wirklich zu haben. Der gute Schauspieler spielt sich dadurch, dass er, vielleicht zunächst noch ohne innere Anteilnahme, einen Ausdruck mimt, in den entsprechenden Affekt ein.

Wieder stoßen wir auf den untrennbaren Zusammenhang von Ausdruck und seelischem Erleben, die Tatsache, dass die Motorik nicht eine beliebig ausschaltbare Zutat des Erlebens ist, sondern zu dessen Wesen gehört. Nur so wird es verständlich, dass ein so tief religiöser Mensch wie Pascal den Rat geben konnte, man solle, wenn man religiösen Stimmungen unzugänglich wäre, zunächst einmal die religiösen Riten mitmachen: die seelische Stimmung würde sich dann schon einstellen.

Und wer hätte nicht schon die Bemerkung gemacht, dass er, wenn er sich anderen als mutig und heiter zu scheinen zwang, in der Tat innerlich mutig und heiter wurde. So paradox es klingt: wenn man gut heucheln will, darf man nicht heucheln, sondern muss die Gefühle, die man zur Schau stellen will, innerlich, wenigstens zeitweise, erleben, und zwar kann man das wieder am besten, wenn man sich mimisch in diese Rolle hineinspielt.

Das Wesen des guten Schauspielers ist nicht die Fähigkeit, zwei Ich-Rollen, die eigene und die gespielte, nebeneinander zu erleben, sondern nacheinander, das heißt die gewöhnliche Ich-Rolle auszuschalten auf Kosten einer fremden, die jedoch dann vom ganzen Körper wirklich Besitz ergreift.

Und damit kommen wir auch zu jener Form des scheinbar unechten Ausdrucks, den unser soziales Leben allenthalben von uns fordert: »der Beherrschung«, das heißt des Unterdrückens gewisser Ausdrucksarten zugunsten anderer. Nur völliges Missverstehen meint, die gesellschaftliche »Form« sei Heuchelei und Komödie. Ihr Sinn liegt vielmehr gerade darin, dass sie das NICHT ist, dass der sich beherrschende Mensch nicht etwas anderes ist als das, was er darstellt, sondern dass er wirklich wird, was er darstellt.

Solange das liebenswürdige Lächeln der vornehmen Dame Heuchelei ist, ist das nicht wirkliche Beherrschung der gesellschaftlichen Konvention: das ist es erst, wenn es wirklicher Ausdruck einer in jeder Lebenslage bezeugbaren Verbindlichkeit ist.

Dem echten Aristokraten ist gelassene Höflichkeit nicht Zwangshaltung, sie ist ihm zur »zweiten Natur« geworden, und nur ein plumper Geselle muss lügen, wenn er höflich sein will. Solange die Selbstbeherrschung Heuchelei ist, ist sie nicht wirklich Beherrschung. Die wahre Beherrschung geht nicht nur auf den Ausdruck, sondern das innere Wesen.

Weit entfernt also, unsere These vom untrennbaren Zusammenhang zwischen seelischem Erleben und mimischem Ausdruck zu widerlegen, bestätigt die Psychologie der Verstellung und Beherrschung sie gerade auf indirektem Weg.

Die Tatsache der Beherrschung als der Kunst, das seelische Leben durch Änderung des mimischen Ausdrucks zu meistern, ist nur möglich, weil eine notwendige Zusammenordnung zwischen Ausdruck und Affekt besteht, weil man durch den Ausdruck auch die Seele zu beherrschen vermag.

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Autor: R.M.F

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