Reiselust · Thomas Mann

Reiselust · Thomas Mann · Neugier auf Veränderung

In aller Reiselust steckt ein gut Teil Verlangen nach nie erfahrener Menschlichkeit, ein gut Teil von Neugierde, in fremde Augen, fremde Physiognomien zu blicken, sich an einer unbekannten menschlichen Körperlichkeit und Verhaltensweise zu erfreuen.

Wir wissen wohl, dass die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, ein Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen.

Dies ist der Zweck eines Orts- und Luftwechsels, einer Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode. Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben daher immer jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang.

Sommerferien an der See! Begreift wohl irgend jemand weit und breit, was für ein Glück das bedeutet? Nach dem schwerflüssigen und sorgenvollen Einerlei unzähliger Schultage vier Wochen lang eine friedliche und kummerlose Abgeschiedenheit, erfüllt vom Tanggeruch und dem Rauschen der sanften Brandung.

Vier Wochen, eine Zeit, die zu ihrem Beginn nicht zu übersehen und zu ermessen war, an deren Ende zu glauben unmöglich und von deren Ende zu sprechen eine lästerliche Rohheit war. So wundervoll weit in graue Ferne gerückt schien bald alles, was jenseits dieser vier Wochen lag.

Eine seltsame Ausweitung meines Innern war mir ganz überraschend bewusst, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlagen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt, dass ich, die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen und Ziel zu prüfen.

Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert. Meine Begierde war sehend, meine Einbildungskraft, noch nicht zur Ruhe gekommen seit den Stunden der Arbeit, schuf sich ein Beispiel für alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die sie auf einmal sich vorzustellen bestrebt war.

Ich reise gerne mit Komfort, besonders wenn man es mir auch noch bezahlt. Ich benützte also einige Tage später Schlafwagen, hatte mir tags zuvor ein Abteil erster Klasse gesichert und war nun geborgen. Trotzdem hatte ich Fieber, wie immer bei solchen Gelegenheiten, denn eine Abreise bleibt immer ein Abenteuer, und nie werde ich in Verkehrsangelegenheiten die rechte Abgebrühtheit gewinnen.

Ich weiß zwar zum Beispiel ganz gut, dass der Nachtzug nach Dresden gewohnheitsmäßig jeden Abend vom Münchner Hauptbahnhof abfährt und jeden Morgen in Dresden ist. Aber wenn ich selber mitfahre und mein bedeutsames Schicksal mit dem Zug verbinde, so ist das eben doch eine große Sache.

Ich kann mich der Vorstellung nicht entschlagen, als führe der Zug nur meinetwegen, und dieser unvernünftige Irrtum hat natürlich eine stille, tiefe Erregung zur Folge, die mich nicht eher verlässt, als bis ich alle Umständlichkeiten der Abreise, das Kofferpacken, die Fahrt zum Bahnhof, die Ankunft dortselbst, die Aufgabe des Gepäcks hinter mir habe und mich endgültig untergebracht und in Sicherheit weiß.

Dann freilich tritt eine wohlige Abspannung ein, der Geist wendet sich neuen Dingen zu, die große Fremde eröffnet sich dort hinter den Bögen des Glasgewölbes am Bahnhof, und freudige Erwartung beschäftigt das Gemüt.

Reisetage entfernen den Menschen (und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen) seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Fahrt zum Bahnhof wohl träumen lässt.

Der Raum der sich drehend und fliehend zwischen den Menschen und seine Pflanzstätte wälzt, bewegt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubt. Von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von der Zeit bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreffen.

Gleich ihr erzeugt er Vergessen. Er tut es aber, indem er die Person des Menschen aus ihren Beziehungen löst und ihn in einen freien und ursprünglichen Zustand versetzt. Ja, selbst aus dem Pedanten und Pfahlbürger macht er im Handumdrehen etwas wie einen Vagabunden.

Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich wirken, so tut sie es dafür doch desto rascher.

Reiselust · Thomas Mann · Neugier auf Veränderung


Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins.


Marie von Ebner-Eschenbach