Lindenblüte · Hermann Hesse

Lindenblüte · Hermann Hesse · Zeit und Leben

Jetzt blühen wahrhaftig schon die Linden wieder, und am Abend, wenn es zu dunkeln beginnt und wenn die schwere Arbeit getan ist, kommen die Frauen und die Mädchen daher.

Sie steigen an der Leiter in die Äste hinauf und pflücken sich einen Korb voll Lindenblüten. Davon machen sie später, wenn jemand krank wird und Nöte hat, einen heilsamen Tee.

Sie haben recht. Warum soll die Wärme, die Sonne, die Freude und der Duft dieser wundersamen Jahreszeit so ungenützt vergehen? Warum soll nicht in Blüten oder sonstwo etwas davon verdichtet und greifbar hängenbleiben, dass wir es holen, heimtragen und später einmal in kalten und bösen Zeiten einen Trost daran haben können?

Wenn man nur von allem Schönen so einen Beutel voll aufbewahren und für bedürftige Zeiten aufsparen könnte! Freilich, es wären doch nur künstliche Blumen mit künstlichem Duft.

Alle Tage rauscht die Fülle der Welt an uns vorbei; alle Tage blühen Blumen, strahlt das Licht und lacht die Freude. Manchmal trinken wir uns daran dankbar satt, manchmal sind wir müde und verdrießlich und mögen nichts davon wissen. Immer aber umgibt uns ein Überfluss des Schönen.

Das ist das Herrliche an jeder Freude, dass sie unverdient kommt und niemals käuflich ist. Sie ist frei und ein Gottesgeschenk für jeden Menschen, wie der wehende Duft der Lindenblüte.

Die Frauen, die emsig in den Ästen hocken und einsammeln, die haben hernach einen Tee für Atemnot und Fieber. Aber das Beste und wahrhaft Feine davon haben sie nicht. Das haben nicht einmal die sommerabendlichen, lustwandelnden Liebespaare in ihrer süßen Trunkenheit.

Aber der Wanderer hat es, der vorübergeht und tiefer atmet. Der Wanderer hat das Beste und Zarteste von allen Genüssen, weil er neben dem Schmecken auch noch das Wissen von der Flüchtigkeit aller Freude hat.

Ihn kümmert es wenig, dass er nicht an jedem Brunnen trinken kann, aber der Überfluss ist ihm gegeben. Dafür schaut er auch dem Verlorenen nicht lange nach und begehrt nicht an jedem Ort, wo es einmal gut sein war, gleich Wurzeln zu schlagen.

Es gibt Lustreisende, die gehen Jahr für Jahr an denselben Ort, und es gibt auch viele, die können von keinem schönen Anblick Abschied nehmen, ohne dass sie beschließen, recht bald wieder zu kommen.

Das mögen gute Leute sein, aber gute Wanderer sind sie nicht. Sie haben etwas von der Trunkenheit der Liebesleute und etwas von dem sorglichen Sammlersinn der Lindenblütenpflückerinnen. Aber den Wandersinn haben sie nicht, den stillen, ernst-fröhlichen, immer abschiednehmenden.

Hier ist gestern einer durchgewandert, ein reisender Handwerksbursche, der grüßte in seiner Bettlerfreiheit die Sammler und Bewohner auf eine spöttische Art. Er nahm an der großen Linde, die voller Pflückerinnen war, die Leiter weg und ging davon. Und obwohl ich selber den Frauen die Leiter wieder hin getragen und ihr Schmähen besänftigt habe, hat der Streich mich doch erfreut.

Oh, ihr Wanderburschen, ihr fröhlichen Leichtfüße, jedem von euch, auch wenn ich ihm einen Fünfer geschenkt habe, sehe ich wie einem König nach, mit Hochachtung, Bewunderung und etwas Neid.

Jeder von euch, auch der Verlottertste, hat eine unsichtbare Krone auf. Jeder von euch ist ein Glücklicher und ein Eroberer. Auch ich bin einmal euresgleichen gewesen, und weiß, wie Wanderschaft und Fremde schmeckt. Sie schmeckt, trotz Heimweh und Mangel und Unsicherheit, gar süß.

Und immerzu strömt der honigsüße Duft aus den alten Bäumen den Weg entlang durch den lauen Sommerabend. Kinder singen unten am Strand und spielen mit Windmühlen aus rotem und gelbem Papier.

Liebespaare spazieren langsam und lässig an den Hecken entlang, und durch den rotgoldenen Staub der Straße surren die Bienen und die Hummeln in verzückten Kreisen und mit goldenem Getöne.

Wahrlich, ich beneide die Liebespaare an den Hecken nicht um ihre süße Trunkenheit, so wenig ich die spielenden Kinder um ihre rechenschaftslose Seligkeit beneide oder die schwärmenden Bienen um ihren taumelnden Flug. Nur die Wanderburschen beneide ich. Die haben den Duft und die Blüte von allem.

Noch einmal jung, unwissend, ungebunden, frech und neugierig in die Welt hineinzulaufen, hungrige Kirschenmahlzeiten am Straßenrand zu halten und bei den Kreuzwegen das »rechts oder links« an den Rockknöpfen abzuzählen!

Noch einmal kurze, laue, duftende Sommernächte unterwegs im Heu verschlafen, noch einmal eine Wanderzeit in harmloser Eintracht mit den Vögeln des Waldes, mit den Eidechsen und Käfern leben! Das wäre wohl ein Sommer und ein Paar neue Stiefelsohlen wert.

Aber es kann nicht sein. Es hat keinen Wert, die alten Lieder zu singen, den alten Wanderstab zu schwingen, die alten, lieben, staubigen Straßen zu gehen und sich einzubilden, man sei nun wieder jung und alles sei, wie es damals war.

Nein, das ist vorbei. Nicht, dass ich alt oder ein Philister geworden wäre! Ach, ich bin vielleicht törichter und zügelloser als je, und zwischen mir und den klugen Leuten und ihren Geschäften ist noch immer kein Verständnis und kein Bündnis aufgekommen.

Ich höre auch immer noch, wie in den drängendsten Jünglingszeiten, die Stimme des Lebens in mir rufen und mahnen, und ich habe nicht im Sinn, ihr ungetreu zu werden.

Aber sie ruft nicht mehr zu Wanderschaft und Freundschaft und zu Zechgelage mit Fackeln und Gesang, sondern sie ist leise und dringlich geworden und führt mich immer einsamere, dunklere, stillere Wege, von denen ich noch nicht weiß, ob sie in Lust oder in Leid enden werden, die ich aber gehen will und auch gehen muss.

Ich hatte mir als junger Mensch das Erwachsenenalter ganz anders vorgestellt. Nun ist es auch wieder nur ein Warten, ein Fragen und ein Unruhigsein, mehr Sehnsucht als Erfüllung.

Die Lindenblüten duften, und Wanderburschen, Sammelfrauen, Kinder und Liebespaare scheinen alle einem Gesetz zu gehorchen und wohl zu wissen, was sie zu tun haben.

Nur ich weiß nicht, was ich zu tun habe. Ich weiß nur: weder die rechenschaftslose Seligkeit der spielenden Kinder noch das gleichmütige Vorübergehen der Wanderer, weder die süße Trunkenheit der Liebesleute noch der sorgliche Sammelsinn der Blütenpflückerinnen ist mir beschieden.

Beschieden ist mir, der Stimme des Lebens zu folgen, die in mir ruft, ihr zu folgen, auch wenn ich ihren Sinn und ihr Ziel nicht immer gleich zu erkennen vermag.

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Autor: Hermann Hesse

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Johann Wolfgang von Goethe