Der Rabe und seine Jungen

Der Rabe und seine Jungen · Leo Tolstoi · Fabel

Auf einer Insel, mitten im Meer, baute ein Rabe sein Nest. Die Insel war klein, und als seine Jungen aus den Eiern geschlüpft waren, fand er nach einziger Zeit nicht mehr genug Futter für sich und die Seinen. Er beschloss daher, zum Festland zurückzukehren.

Der Rabe fasste das erste der Jungen mit seinen Krallen und flog mit ihm über das Meer. Doch der Weg war weit, und der Rabe wurde sehr müde. Immer tiefer sank er hinab, und immer langsamer schlug er mit seinen Flügeln.

»Ich bin stark, und mein Junges ist schwach«, dachte er, »aber wenn es groß und kräftig ist, werde ich alt und schwach sein. Wird es sich dann erinnern, dass ich es einmal über das Meer getragen habe?«

Und der Rabe fragte den jungen Raben: »Wenn ich alt und schwach sein werde und du groß und stark bist, wirst du mich pflegen und von Platz zu Platz tragen? Sag mir die Wahrheit!«

Der junge Rabe antwortete schnell und ohne zu überlegen: »Ich will es tun, Vater«, denn er hatte Angst, dass ihn der alte Rabe hinunter ins Meer fallen lassen würde.

Der Rabe flog also weiter, aber je weiter er flog, desto müder wurde er. »Mein Sohn hat nicht die Wahrheit gesprochen«, dachte er und öffnete seine Krallen und ließ ihn fallen. Wie ein Stein fiel der junge Rabe hinunter in die Wellen und ertrank sofort. Der alte Rabe flog zurück auf die Insel.

Als er gerastet hatte und sich wieder stark fühlte, nahm er seinen zweiten Sohn und flog mit diesem übers Meer. Doch wieder wurde er müde, so müde, dass er kaum noch mit den Flügeln schlagen konnte.

Da stelle er die gleiche Frage an seinen zweiten Sohn, und auch dieser antwortete, ohne zu überlegen, aus Furcht, ertränkt zu werden. »Ich will es tun, Vater!«

Doch sein Vater glaubte ihm nicht, und als ihn seine Kräfte verließen, öffnete er seine Krallen, und auch der zweite Sohn ertrank im Meer. 

Im Nest auf der Insel lag nur noch ein einziger junger Rabe. Der alte Rabe nahm seinen letzten Sohn und flog mit ihm über das Meer. Weitab von der Insel und noch fern vom Festland, war der alte Rabe wieder so erschöpft, dass er kaum noch mit den Flügeln schlagen konnte.

»Sohn«, fragte er, »wirst du mich füttern und pflegen, wenn ich alt bin?«

»Nein, Vater, das werde ich nicht tun«, antwortete der junge Rabe.
»Und warum nicht?« fragte der Alte.
»Wenn du alt bist und ich erwachsen bin, werde ich mein eigenes Nest und meine eigenen Jungen haben, die ich füttern und pflegen muss.«

»Er spricht die Wahrheit«, dachte der alte Rabe, »er wird ein Nest bauen und seine eigenen Jungen aufziehen.«

Mit letzter Kraft stieg er wieder höher, schlug mit den Flügeln und trug seinen letzten Sohn über die weiten, weiß schämenden Wellen sicher zum Festland.

Der Rabe und seine Jungen · Leo Tolstoi · Fabel · Wahrheit

Der Rabe und seine Jungen · AVENTIN Storys

Der Rabe und seine Jungen - Leo Tolstoi - Fabel - Auf einer Insel, mitten im Meer, baute ein Rabe sein Nest. Die Insel war klein, und als seine Jungen

URL: https://aventin.de/der-rabe-und-seine-jungen-leo-tolstoi/

Autor: Leo Tolstoi

Bewertung des Redakteurs:
4

Du kannst dir nicht aussuchen, wie du stirbst. Oder wann. Du kannst nur entscheiden, wie du lebst. Jetzt.

Joan Baez