Sisyphos und der Felsbrocken

Sisyphos und der Felsbrocken · Esteban de Palacios · Spanien

Vergil führte mich in einen neuen Raum. Was ich dort sah, übertraf in der Tat alles bisher Erlebte. Ein Hüne von einem Mann mit kraftstrotzenden Muskeln und glänzender Haut – er sah aus wie ein Meeresgott – wälzte eine mächtige Kugel über eine schiefe Ebene hinauf.

Sein Rücken wölbte sich wie ein gotischer Strebepfeiler und hielt der wachsenden Kraftanstrengung stand. Die Venen zeichneten sich wie Schlangen auf den Armen ab und leiteten gierig den Blutstrom zurück, den die Muskeln von den Arterien verlangt hatten.

Die gefährlich gespannten Sehnen drohten zu reißen. Verwundert heftete ich meinen Blick auf das Gesicht des Kolosses. Unbeugsame Entschlossenheit. Übermenschliche Anstrengung. Hartnäckiges Streben.

Schritt um Schritt, das Gesetz der Schwerkraft mit unerbittlicher Standfestigkeit besiegend, schob sich die Kugel in der Zange seiner zweifellos edlen kraftvollen Heldenhände stetig aufwärts. In unbeweglicher Spannung unterstützte ich sie und bangte um das Gelingen seines Vorhabens.

Oben angekommen aber zeigte der Athlet keine Freude, noch gönnte er sich Erholung. Er ließ die Kugel gleich wieder über die schiefe Ebene hinabrollen. Dann stieg er von der Plattform herab und machte sich von neuem daran, diese ungeheuerliche Art Erdkugel wieder hinaufzuwälzen.

»Darf ich ihn ansprechen?« fragte ich Vergil.

»Du darfst«, antwortete er mir mit Grabesstimme. »Aber erwarte nicht, dass er von seinem Tun ablässt.«

»Erschreckend ist Ihre Anstrengung, mein Freund«, sagte ich liebenswürdig und meinte, ihm mit meinem Verständnis Trost zu spenden. »Und eine seltsame Strafe ist diese nutzlose und immer wiederkehrende Bemühung.«

Der Titan hielt mitten auf dem Weg inne und schaute mich verblüfft an.

»Nutzlos erscheint Ihnen diese Bemühung?« fragte er schwer atmend und stockend. »Sie ist alles andere als nutzlos, denn mit dieser Anstrengung erhöht sich Tag für Tag meine Muskelkraft.«

Jetzt war ich verblüfft. »Was nützt es denn, Ihre schon jetzt höchst eindrucksvolle Muskelkraft noch zu steigern?«

»Das ist doch ganz klar«, antwortete er selbstzufrieden und mit stolzgeschwellter Brust, »damit ich das Gewicht bei jedem Mal ein bisschen leichter den Anstieg hinauf stoßen kann.«

Als wäre mit dieser Feststellung jegliches Problem erledigt, nahm er mühsam seine Stoßarbeit wieder auf.

Ich war erschlagen. Was mir wie ein teuflischer Zirkelschluss vorgekommen war, schien für ihn ein Freudenzirkel zu sein.

Mein Freund fasste mich am Arm und führte mich durch lange Gänge wieder ins Freie hinaus. Auf der Straße fragte mich dann Vergil Rodríguez mit seiner heiseren Stimme:

»Nun, raffst du dich auf und wirst Mitglied?«

Ich sah auf das Schild am Gebäude: »Club Sisyphos Krafttraining«.

»Oh nein«, stieß ich beklommen aus. »Die Wissenschaft hat sich der Hölle bemächtigt. Das ist das Ende der antiken Mythologie.«

Sisyphos und der Felsbrocken · Esteban Padrós de Palacios · Spanien