Sieben Urformen des physischen Lebens · Alltagspsychologie
Indem ich – zunächst vom Leib-Seele-Problem ausgehend – das Leben als letzte Tatsache, zu der wir vorzudringen vermögen, als »Prinzip«, wie die Philosophen sagen, anspreche, möchte ich nicht ein bloßes Wort eingeführt haben, ein Wort, für das ein klarer Begriff fehlt!
Im Gegenteil, es soll unser Ziel sein, diesen Begriff des Lebens, mag er zunächst als Mysterium erscheinen und sich niemals restlos für uns erklären, also auf andere Begriffe zurückführen lassen, dennoch in seinen Auswirkungen zu erforschen; das heißt verständlich zu machen, wie sich die tausend und abertausend Formen der lebendigen Welt aus diesem einheitlichen Grundbegriff entwickeln lassen.
Ja, nicht nur das menschliche, nein auch das tierische und das pflanzliche Leben wollen wir aus dieser einheitlichen Wurzel ableiten, und es muss die Probe auf unsere Behauptung sein, ob sich das Blühen und Frucht-Tragen der grünen Gräser und Bäume, das Kämpfen, Lieben, Jagen der vielgestaltigen Tiere, bis hinauf zum Wirken des Menschen, der Kirchen und Kaufhäuser und Wissenschaften und Staaten baut, vom Begriff des Lebens her verstehen lässt.
Das protheushaft-wandelbare Wesen des Lebens ist damit schon zugegeben. Es »ist« nur, indem es sich wandelt; sein Wesen muss erfasst werden als ein Werden, ein Geschehen, ein Streben, das niemals in sich ruht, sondern neuen Formen zustrebt, dessen milliardenfache Gestalten alle doch nur Durchgangsstadien sind zu weiteren Stadien, deren keines als Ziel, keines als Ende erscheint.
Und doch muss es ein Gemeinsames geben inmitten dieser unübersehbar vielformigen Welt, und das ist es, was wir suchen. Wir müssen aufspüren, welche Grundformen des Lebens in all diesen wandelbaren Gestalten wiederkehren, und zwar gehen wir zunächst nur von dem physischen Leben aus, dem Leben, das die Körper aufbaut, wobei wir das Bewusstsein vorläufig beiseite lassen.
Und da das beim Menschen, dessen Lebensbetätigungen fast alle vom Bewusstsein begleitet sind, schwer auszuschalten ist, so wenden wir uns zunächst zur vegetativ-anomalischen Natur, in der das Bewusstsein nicht die gleiche Rolle spielt wie im Menschenleben: hier wollen wir die Urformen des Lebens ergründen, die sich betätigen als Aufbau und Ausbau der Leiblichkeit, des physischen Aspektes des Lebens.
Als »Streben«, als gerichtete Bewegtheit charakterisieren wir das Leben, und in siebenfacher Richtung, so scheint uns, wirkt sich dies Streben aus. Sieben Urformen des Lebens lassen sich unterscheiden, denen sich alle Betätigungen des leiblichen Daseins eingliedern lassen, sieben Richtungen, von denen aus die Organe des Leibes, in denen jene Urformen des Lebensstrebens Gestalt gewonnen haben, sich verstehen lassen.
Ich nenne zunächst die sieben Hauptrichtungen, in denen das physische Leben sich betätigt, die sieben Urformen, die wir schon bei Pflanzen und niedersten Tieren finden, und die uns Aufbau und Gestalt des physischen Organismus verständlich machen.
Wie immer das Leben gegeben sei, ob als Pflanze oder Tier oder Mensch, stets strebt es danach, seinen Organismus zu erhalten, eine Erhaltung, die jedoch kein starres Beharren ist, sondern unabänderlicher Wechsel von Abbau und Aufbau, von Dissimilation und Assimilation.
Die einzelne Zelle wie der Organismus in seiner Gesamtheit bewahren ihre Form nur, indem sie deren Materie unablässig zersetzen und wieder ersetzen, und wir verstehen ihr Wesen nur von dieser Tendenz aus, sich im Wechsel und durch Wechsel zu erhalten. Die erste Urform des leiblichen Lebens also ist die »Erhaltung« seiner selbst.
Natürlich weist diese Tendenz bereits hinaus über sich, indem zum Aufbau der zersetzten Stoffe neue Stoffe notwendig sind, die Einbeziehung neuer Energien. Das Leben erhält sich nur, indem es sich ausdehnt und sich erweitert, und als zweite Funktion schließt bereits die Lebenserhaltung die Funktion der »Lebenserweiterung« ein.
Mannigfache Organe dienen dieser zweiten Urform des Lebens. Atmungs-, Ernährungs- und Verdauungsorgane mannigfachster Art hat das Leben ausgebildet, um dem Organismus stets neue Stoffe zuzuführen und einzuverleiben.
Mit der Funktion der Erweiterung des Lebens aber ist eine dritte gesetzt, die – obwohl bedingt durch die Tendenzen der Erhaltung und Erweiterung – eine neue Form der Lebensbetätigung darstellt: die Funktion der »Lebenssteigerung« und »Lebenserhöhung«, die sich physisch vor allem als »Wachstum« offenbart. Indem sie sich erhalten und durch Aufnahme neuer Stoffe erweitern, wachsen die Organe des Leibes, nehmen an Größe und Vermögen zu, und auch diese Tendenz der »Steigerung« des Lebens gehört zu seinem Wesen.
Aber nicht nur in seinem inneren Bestand hat sich das Leben zu erhalten und zu mehren, es muss sich auch sichern gegen äußere Bedrohung. Die »Lebenssicherung« ist die vierte Urform, in der sich das Leben betätigt, und mannigfache Organe bildet sie aus, um ihre Ziele zu erreichen.
Wir erkennen diese Tendenz des Lebens wieder in den Rinden und stachligen Hüllen der Pflanzen, in den Panzern und Schalen der Tiere, in den Giften, mit denen sie sich wehren, in den Bewegungsorganen, mit denen sie sich ihren Feinden entziehen.
Auch geht die defensive Lebenssicherung über in aggressive Form, und in der feindlichen Haltung gegen andere Lebewesen haben wir wiederum eine Grundform des Lebens zu sehen. Man hat es ausgesprochen, dass das Leben ein Kampf sei, und sicherlich ist die »Angriffsbeziehung« zu anderen Lebewesen eine Urform des Lebens. Man sehe nur, welch furchtbare Waffen sie sich schafft in Stacheln und Zähnen, in Klauen und Pranken, Hörnern und Geweihen.
Aber nicht nur die feindliche Beziehung zu anderen Lebewesen, auch die »freundliche Gesellung« gehört zum Wesen des Lebens, und auch in ihr haben wir eine Urform des Lebens zu sehen. Sie erstreckt sich in erster Linie auf Wesen von gleicher Art, kann jedoch auch die Form gegenseitiger Ergänzung annehmen.
Die einzelnen Gebilde des Lebens schließen sich aneinander, um eine höhere Form des Lebens zu erreichen; ist doch schon jeder höhere Organismus in sich aus Gesellung von niederen Organismen aufgebaut.
Eine siebte Urform des Lebensstrebens haben wir endlich zu sehen in der »Fortpflanzung«, dass jeder Organismus Organe entwickelt, die der Zeugung neuer Lebensformen dienen, so dass das Leben über alle individuellen Verkörperungen hinaus sich fortsetzt in neuen Formen und neuen Gestalten.
In sieben Urformen also wirkt sich in körperlicher Hinsicht das Leben aus, sieben Urformen, die doch seine Einheitlichkeit nicht aufheben, innerhalb deren Verschiedenheit doch die Einheit des Lebens weiter besteht. Deshalb ist es kein Einwand gegen unsere Sonderung, dass sich die einzelnen Formen nicht haarscharf trennen lassen, dass sie zusammenhängen und ineinander übergehen, dass diese Organe auch in den Dienst anderer Organe treten können.
In sieben Grundformen betätigt sich das Leben und ist dennoch eins, eins sogar in dem Sinn, dass das Individuum nicht eine letzte Einheit ist, sondern hineingehört in größere Lebenszusammenhänge, so dass das Leben auch Einheit im überindividuellen Sinne ist.
Blicken wir jetzt, nachdem der Begriff des Lebens uns deutlicher geworden ist, nochmals auf den Leib des Menschen, den wir verstehen wollen. Wir verstehen jetzt seine Gestalt und seine Organe als gebildet im Dienst der sieben Grundformen des Lebens. Wir verstehen, was das Herz und die Adern und zahllose andere innere Organe sollen: sie dienen der Erhaltung des Lebens durch Ermöglichung des Stoffwechsels.
Wir verstehen auch, warum wir einen Mund und Zähne haben und Hände zum Greifen: sie dienen der Erweiterung des Lebens durch Einbeziehung körperfremder Stoffe; wir verstehen, wie auf Grund des Stoffwechsels und der Einbeziehung dieser Stoffe der Körper wächst und seine Kräfte sich steigern.
Wir verstehen auch, warum wir flinke Beine haben, die uns in Sicherheit bringen vor drohenden Gefahren, wir verstehen, warum wir Organe haben zum Kämpfen und zur freundschaftlichen Vereinigung, wir verstehen auch, warum in unserem Körper sich die Samen und Eier bilden, aus denen neues Leben erwächst.
Unser Leib ist das Mittel, durch das sich das Leben in seinen sieben Urfunktionen auswirkt, und von diesen allein erhält das merkwürdige Gebilde erst Sinn, Sinn allerdings, der nicht »Zweck« im Sinne vorbewusster Zielsetzung ist.
Nochmals, das müssen wir wiederholen: nur vom Leib aus ist das Leben des menschlichen Leibes nicht ganz zu verstehen. Mehr als bei allen anderen Wesen müssen wir, um das Verhalten und die Handlungen des Menschen zu verstehen, sein Bewusstsein zu Hilfe rufen, und hier nun finden wir, als erste Bestätigung unserer Lehre vom Leben, dass im Bewusstsein dennoch die sieben Grundformen des physischen Lebens in neuer Form wiederkehren, dass das Bewusstsein eine Ausweitung des vegetativ-animalischen Lebens mit neuen Mitteln und Möglichkeiten ist.
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Autor: R.M.F
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Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will.
Henri Matisse