Maske Rausch und Wandlung · R.M.F · Alltagspsychologie
All unsere Darlegungen, dass der Körper mit seinen Bewegungen und deren Beziehungsobjekten Ausdruck der Seele sei, scheinen jedoch wie ein Kartenhaus im Wind zusammenzubrechen vor dem Einwand, dass aller Ausdruck und alle Symbolik oft gar nicht ehrliche Makler sind, sondern Lügner und Betrüger, leere Maskerade, hinter der sich die Seele völlig verbergen kann.
Andererseits wieder scheint es zuweilen, als ob die Seele sich vom Körper gleichsam zu lösen vermag, als ob eine fremde Seele von unserem Leib Besitz ergreifen würde, was besonders in vielen Rauschzuständen eintritt.
Drittens sind auch Wandlungen möglich, als ob gleichsam eine neue Seele im alten Leib einziehen würde.
Maske, Rausch und Wandlung sind drei Tatbestände, mit denen sich der Mensch auseinanderzusetzen hat, Tatbestände, die in kurioser Weise dem sehr verbreiteten Glauben entgegenstehen, dass jeder Mensch als höchste und einzige Gottheit sein eigenes Ich verehre.
Die meisten Menschen sind mit viel Raffinesse und Kunst bemüht, ihrem eigenem Ich zu entfliehen, es zu verstecken oder abzuändern.
Ungeachtet, dass das Ich beständig geneigt ist, sich selbst zum Mittelpunkt der Welt zu machen und Sonne, Mond und die Sterne um seinen Standpunkt kreisen zu lassen, ungeachtet, dass es unablässig seinen Leib mit wohlschmeckenden Speisen füttert, ihn in teure Gewänder kleidet und ihm üppige Häuser baut, ungeachtet auch dessen, dass es unablässig seine Seele in Gesten, Worten und Symbolen in die Welt hineinprojiziert, ist es doch beständig bemüht, sich selbst zu verleugnen, sich zu maskieren und seinem Selbst zu entfliehen.
Gewiss ist jedes Ich eine Individualität, zugleich aber will es stets irgendwie die Grenzen dieses Kreises überschreiten, will nicht nur von anderen, nein, sogar von sich selbst für ein anderes Wesen gehalten werden, als es in Wirklichkeit ist.
Ja, jedes Ich will den Umkreis ihres Ich, den es doch daneben so sorgfältig kultiviert, völlig sprengen, will alle Ichheit hinter sich lassen, will im Rausch die Fessel der Individuation abwerfen, ja will Gott selber sein.
Mit der Verheißung: »Ihr werdet sein wie Gott!« gelang es der Schlange im Paradies, den Menschen zur Sünde zu verlocken. Aber war es wirklich nur Sünde, dass der Mensch das wollte, liegt nicht vielleicht Höchstes und Tiefstes in dieser Sehnsucht, etwas Anderes, Besseres oder Höheres zu werden, als er von Natur aus ist?
In seltsame Paradoxien scheinen wir uns da zu verwickeln, und doch ist es nötig, ihnen nachzugehen, da sich von hier aus höchst lockende Ausblicke nach Gefilden eröffnen, die der Mensch mit höchsten Namen nennt: Kunst, Religion und Sittlichkeit sind aufs engste verbunden mit diesen Tendenzen der Entselbstung, dass der Mensch etwas anders, als er ist, scheinen oder werden will.
Drei Stufen solcher Entselbstung werden unterschieden:
Maske:
Zunächst kann das Ich bestrebt sein, seiner Umwelt als ein anderes Ich zu erscheinen, sie zu täuschen über sein wahres Wesen und vielleicht sogar sich selbst dabei und dadurch mitzutäuschen: das ist die Stufe der Maskerade.
Rausch:
Darüber hinaus kann der Mensch bestrebt sein, wenigstens für kurze Zeit, durch künstliche Mittel seine Ich-Grenze zu sprengen, etwas anderes als sein gewöhnliches Ich, vielleicht überhaupt kein Ich mehr, wirklich zu sein, wenn er auch nach solchen Aufschwüngen stets wieder auf seine Ausgangsbasis zurücksinkt: das ist die Stufe des Rausches.
Wandlung:
Und drittens kann das Ich bemüht sein, dauernd an anderes Wesen zu werden, wirklich die bisherige Form seines Lebens abzustreifen wie ein altes Kleid: das ist die Stufe der Wandlung.
Man halte bei den aufgeführten Darlegungen der Begriffe Maske und Rausch bitte jeden tadelnden Sinn fern, der im Leben vielfach bei diesen Worten mitschwingt. Für uns bezeichnen sie nur seelische Tatsachen, das Bestreben zur Entselbstung, das an sich weder zu tadeln noch zu loben, sondern einfach eine Tatsache ist.
Erst die Art, in der sich die Entselbstung betätigt, entscheidet darüber, ob es feige, charakterlose Selbstflucht oder ernste, edle Selbstüberwindung ist.
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Autor: R.M.F
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Achtsamkeit ist nicht schwierig, wir müssen uns nur daran erinnern, achtsam zu sein.
Sharon Salzberg