Gerichtsverhandlung in New York · Heinz Liepman · Story
Ich war vor zwei Monaten in New York City angekommen und lebte mit zwei Freunden, die wie ich von Deutschland gekommen waren, in einem dunklen, schäbigen Zimmer, das uns Mr. Murphy, ein fetter, jähzorniger Ire, vermietet hatte.
Wir hatten kein Geld und keine Jobs und lebten von Gelegenheitsarbeiten. Mr. Murphy war ein Witwer mit fünf Kindern, und Jimmy war das jüngste. Das Haus, wo wir wohnten, war eine der riesigen Mietskasernen in dem armseligen, übervölkerten Viertel der Stadt im Süden Manhattans, in dem die erste Generation der Einwanderer lebte – Griechen, Iren, Juden, Franzosen, Deutsche, Russen und Italiener.
Als wir ungefähr drei Monate bei Mr. Murphy gewohnt hatten, wurde Jimmy krank. Von Anfang an sah es ziemlich hoffnungslos aus. Kurt, der früher ein prominenter Kinderarzt in Berlin gewesen war, ging zu Mr. Murphy.
»Mr. Murphy«, sagte er, »Sie wissen, dass ich Jimmy nicht behandeln darf, da ich das amerikanische Staatsexamen noch nicht abgelegt habe. In vier Monaten wird es soweit sein, aber darauf kann Jimmy nicht warten. Sie müssen sofort einen Arzt holen.«
»Können wir ihn nicht in ein Krankenhaus bringen?« fragte Mr. Murphy. »Hier zu Hause können wir nicht für ihn sorgen. Ich muss zur Arbeit gehen – wegen der anderen Kinder..«
»Jimmy kann nicht transportiert werden. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wir drei werden aufpassen. Nur ein Arzt!« Jimmy stöhnte in seinen Fieberträumen. Sein blondes Haar klebte an seiner schweißnassen Stirn.
Der Arzt kam zweimal, ein dünner, alter Italiener mit einem Monokel und zittrigen Händen. Er kam morgens um zehn und noch einmal am Nachmittag. Gegen Mitternacht stieg das Fieber, und der Atem begann zu rasseln. Kurt schickte Mr. Murphy wieder zum Arzt, aber nach einer Weile kam er allein zurück. »Er will nicht kommen«, flüsterte er, Tränen hilfloser Wut in den Augen. »Ich habe seinen letzten Besuch noch nicht bezahlt. Er will erst das Geld sehen…«
Die niedrige Stube war voll mit Menschen. Die Brüder und Schwestern Jimmys standen schlaftrunken und angstvoll im Schatten. Ein paar Nachbarn – eine dicke Italienerin, ein alter Jude mit silbrigem Bart, ein polnischer Priester – standen bei der Tür, flüsterten, zählten Münzen, schüttelten die Köpfe.
Mr. Murphy starrte auf das röchelnde Kind. Er drehte sich zu Kurt um und flüsterte wild: »Sie sind doch ein Arzt! Um Himmels willen, lassen Sie das Kind nicht sterben!« Auf einmal sahen alle auf Kurt. Sein Gesicht war blass.
Ich wusste, was in ihm vorging. In ein paar Monaten würde er sein Examen machen und ein neues Dasein beginnen. Auf der einen Seite stand das Gesetz, war leuchtende Zukunft, Frieden, Wohlstand – und auf der anderen Seite war Undank gegenüber dem Land, das ihm eine neue Heimat bot, Bruch des Gesetzes und Vertrauens und, wenn er erwischt würde, neue Heimatlosigkeit, neues Elend. Dazwischen aber ein leidendes Kind, schweißüberströmt, geschüttelt von Fieber und Schmerzen…
Zehn Tage lang kämpfte Kurt um das Leben von Jimmy Murphy. Er schlief selten und wurde dünn und hager. Aber dann war die Krisis vorüber und das Kind gerettet. Und nun beginnt die eigentliche Geschichte.
An dem Tag, an dem Jimmy zum ersten Mal aufstehen durfte, kamen zwei Polizisten und verhafteten Kurt. Der alte italienische Arzt hatte Anzeige erstattet. Am gleichen Tag ging eine seltsame Bewegung durch unser Haus und unsere Straße. Die Russen, die Italiener, die Juden, die Iren und die Deutschen steckten die Köpfe zusammen, und ihre grauen Gesichter waren rot und zornig.
Am nächsten Morgen ging kein einziger dieser Männer zur Arbeit. Sie gingen zum City-Court, dem Gericht der Stadt New York. Ich war selber dabei. Sie füllten den Gerichtssaal, es müssen ihrer über hundert gewesen sein, und als Kurt aufgerufen wurde, drängten sie sich alle vor, und der Richter blickte erstaunt von seinem Podium hinunter auf die merkwürdige, schweigende Menge von Männern, Frauen und Kindern.
»Schuldig oder nicht schuldig?« fragte der Richter. Aber bevor Kurt den Mund öffnen konnte, riefen hundert Stimmen gleichzeitig »Nicht schuldig!«
»Ruhe!« donnerte der Richter. »Ich werde den Saal räumen lassen, wenn ich noch einen Laut höre…« Er wandte sich wieder an Kurt. »Angeklagter, plädieren Sie für schuldig oder..« Und dann stockte er auf einmal und blickte auf die schweigenden Leute, die müden und runzligen Gesichter, die gebeugten Rücken.
»Was wollt denn ihr?« fragte der Richter ganz unzeremoniell, und als mehrere auf einmal zu sprechen begannen, wies er auf Mr. Murphy, der direkt hinter Kurt stand.
»Sie da!«
Und dann begann Mr. Murphy zu sprechen, und der Richter sagte gar nichts und sah nur von einem zum anderen. »So sind wir hierhergekommen«, endete Mr. Murphy, »die Nachbarn meine ich damit. Wenn Sie unseren Doktor verurteilen, sind wir hier, um für ihn zu bürgen. Und wir haben gesammelt, falls er eine Geldstrafe bekommt, für das, was er begangen hat – nämlich meinem Kind das Leben gerettet. Wir haben sechsundachtzig Dollar gesammelt…«
Der Richter erhob sich und lächelte. Es sah merkwürdig aus, wie dieser Mann im schwarzen Talar plötzlich lächelte und von seinem Podium zu Kurt hinunter stieg und seine Hand ausstreckte. »Ich drücke Ihnen die Hand«, sagte der Richter mit leiser Stimme. »Sie werden einmal einen guten Amerikaner abgeben.« Dann stieg er rasch auf sein Podium zurück und klopfte mit dem Hammer auf den Tisch. Alles erhob sich.
»Sie haben gegen das Gesetz verstoßen«, sagte der Richter, »um einem höheren Gesetz zu gehorchen. Ich spreche Sie frei und — und Ihnen allen danke ich, dass Sie gekommen sind, um für den Angeklagten zu zeugen. — Nächster Fall!«
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Autor: Heinz Liepmann
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Das Bewußtsein der Geschöpfe ist durch das Atemholen bedingt.
Zhuangzi