Die Erbschaft · Kirstin Warschau

Die Erbschaft · Kirstin Warschau · Kriminalstory 

»Die alte Marga hat es gewusst«, sagten die Enkel verbittert, als die Polizei durch das Haus ging, sie einzeln vernahm und sich der Verdacht erhärtete, obwohl die gerichtsmedizinische Untersuchung noch ausstand.

Marga war zwar schon über achtzig als sie starb, aber sie war bis zum Ende ihres Lebens gesund und geistig rege gewesen, erzählten die trauernden Enkel jedem, nachdem das Unfassbare geschehen war.

In den letzten Jahren ihres Lebens hatte Marga allein gelebt, nur eine Haushaltshilfe kam regelmäßig, um für sie Einkäufe zu erledigen, das alte, große Haus sauber zu halten und den Garten zu pflegen.

Jeden Abend hatte sie in ihrem braunen, samtbezogenen Polstersessel Platz genommen, eine Wolldecke über die schmerzenden Knie gelegt, den Fernseher eingeschaltet und mit einem glücklichen Lächeln alle Sendungen mit Volksmusik gesehen, die ihre Antenne empfangen konnte.

Dabei hatte sie das Tischchen immer im Blick. Es stand rechts von der geöffneten Flügeltür neben der großen Vase mit den Trockenblumen. Es war ein weißer doppelstöckiger Kunststofftisch auf Rollen, eine Art Servierwagen.

Auf der oberen Tischplatte standen Bilder, gerahmte Fotografien von Angehörigen, Ihre Großeltern, die Eltern, ihre Schwester, ihr Mann Wilhelm, allesamt bereits verstorben, waren darauf zu sehen. Außerdem reihten sich dort Fotos ihrer Stieftöchter samt deren Gatten, der Enkelkinder und des Urenkels.

Diese angeheirateten Verwandten wiederum erfreuten sich alle noch des Lebens. Einige der aufgestellten Fotos waren schon nachgedunkelt, andere verblichen, aber alle waren ordentlich gerahmt und sorgsam platziert. Jedem aus der Verwandtschaft, der Marga einmal ein Foto schenkte, wurde die Ehre zuteil, dort gezeigt zu werden, sie machte da keinen Unterschied.

Auf der unteren Tischplatte standen die Flaschen ihrer Hausbar. Sie nannte sie niemals Hausbar, aber es war eine beachtliche wie wohl sortierte Sammlung verschiedener Alkoholika. Die meisten Flaschen waren Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke, gut gemeinte Gaben ihrer Besucher.

Marga war in ein Alter gekommen, in dem es schwer geworden war, sie noch mit sinnvollen Dingen zu beschenken. Es gab nichts, was sie wirklich noch brauchte. Sie hatte ja fast alles: ein Haus, eine Haushaltshilfe, ein gewisses Vermögen, das Wilhelm, ihr Mann, ihr hinterlassen hatte und von dem sie sich im Grunde fast jede Annehmlichkeit hätte leisten können.

Aber einen guten Tropfen, den ließ Marga sich gern schenken, den sie wusste, dass sie damit ihre Gäste, deren Schar sich in den letzten Jahren deutlich reduziert hatte, erfreuen konnte. Und so standen dort neben farbigen Likören in wohl gestalteten Kristallkaraffen auch teure Weine guter Jahrgänge.

Sie selbst trank selten davon. Meist nach fettem Essen oder nach einem der wenigen Theaterbesuche, die sie noch gelegentlich mit einer der ihr verbliebenen Freundinnen machte. Sie wusste, dass sie danach vor lauter Aufregung über den ungewöhnlichen Abend schlecht schlafen konnte und gönnte sich einen Pfefferminz-, Kirsch- oder Schokoladenlikör.

Früher mit Wilhelm hatte sie oft Wein getrunken. Wilhelm hatte eine Weinflasche geöffnet, ihr liebevoll ein Glas eingegossen und dann den Rest der Flasche allein geleert. Marga trank niemals, wenn sie vor dem Fernseher saß, und nie nach einem Schrecken oder einer schlechten Nachricht. Deshalb hatte sie auch keinen Tropfen angerührt, als sie vom Tode ihres Neffen Leonhard erfuhr.

Leonhard war das einzige Kind ihrer Schwester, und Marga hatte ihn für missraten gehalten. Alles, was er bis zu seinem überraschenden Herztod im Alter von 50 Jahren angepackt hatte, war erfolglos gewesen. Seine Lebensweise war nie eine solide. Er hatte nicht geheiratet, sein Geld stets sorglos ausgegeben und nie eine ordentliche Anstellung in einem seriösen Betrieb gefunden.

Stattdessen war er zu langen Reisen aufgebrochen, mit noch verrückteren Ideen wiedergekommen, als er losgefahren war und hatte schließlich einen Imbiss eröffnet, der ihn aber kaum ernährte.

Wenn Leonhard Marga besuchte, dann eigentlich nur, um am Ende der Besuchszeit mehr oder weniger unverblümt um eine finanzielle Zuwendung zu bitten. Marga hatte Leonhard in ihrem Testament bedacht, denn er war schließlich das Kind ihrer Schwester und der einzige ihr verbliebene leibliche Verwandte.

Vor seinem plötzlichen Ableben war er bei ihr aufgetaucht und hatte eine Flasche Beerenauslese mitgebracht. »Ihr habt ja immer so schöne Reisen ins Elsaß gemacht. Erzähl doch nochmal davon«, hatte er sie ermuntert, sich dann sichtlich gelangweilt zurückgelehnt und an dem Urwurz (Kräuterlikör aus Leinsweiler) genippt, den sie für ihn ausgeschenkt hatte.

Die Flasche mit dem teuren Wein, den er mitgebracht hatte, verstaubte später auf dem Serviertisch. Leonhard wehrte ab, als sie ihm davon ein Glas anbieten wollte. »Das ist doch ein Geschenk, den sollst du in einer stillen Stunde ganz für dich allein genießen. Der schmeckt wunderbar süß, wie Likör«, sagte er und machte eine Kopfbewegung in Richtung ihrer Flaschensammlung.

Bevor er sich verabschiedete, bat er sie um Geld. »Nur leihweise, ich bin in Schwierigkeiten, ich zahle es dir bestimmt zurück.«. Sie war sich sicher, dass er es nicht zurückzahlen würde. Er spekulierte darauf, sie bald zu beerben. Dann jedoch war alles anders gekommen. Leonhard war Wochen darauf plötzlich gestorben, und Marga überlebte ihn um zwei Jahre.

Marga besaß keine eigenen Kinder, aber drei angeheiratete Töchter, die alle sehr große Ähnlichkeit mit ihrem Mann Wilhelm hatten. Sie waren genauso dick und langsam wie es ihr Vater gewesen war, nur, dass sie es nicht wie er zu Geld und Ansehen gebracht hatten. Wie ihr Neffe Leonhard schienen Ilse, Rosemarie und Hildegard auch nur darauf zu warten, endlich das Erbe zu bekommen, das ihnen nach ihrer Meinung schon lange zustand.

Sie hatten der späten Wiederverheiratung ihres Vaters mit größtem Missfallen gegenübergestanden. Nur durch geschickte Diplomatie Margas war ein Familienkrieg abgewendet worden. Sie hatte die Stieftöchter und deren Kinder durch gelegentliche Geldgeschenke soweit beruhigt, dass es nach außen so aussah, als stünde man auf freundschaftlichem Fuß.

Aber manchmal kam es Marga bei Familienfeiern so vor, als säße sie in einer Schlangengrube. Wilhelm hatte sich zu Lebzeiten in die Konflikte nie eingemischt, er kümmerte sich nicht um die Nöte seiner Töchter. »Die taugen nichts«, sagte er immer zu Marga, wenn der Familientross nach einer Feier abgezogen war. Deshalb war es nicht erstaunlich, dass Wilhelm seine Frau als Haupterbin einsetzte.

Marga führte ein ruhiges, fast beschauliches Witwenleben. Sie ließ sich von den geldbedürftigen Stieftöchtern, deren schwermütigen Männern, den an Übergewicht leidenden Enkelkindern samt dem immer hungrigen Urenkeln nicht beirren. Wenn sie sich einsam fühlte, schaute sie sich die Fotografien an und sprach mit Wilhelm, als säße er an seinem Lieblingsplatz am Fenster. Und manchmal, wenn ihr danach war, trank sie einen Likör und stieß dabei im Geist mit Wilhelm an.

Kurz nach ihrem achtzigsten Geburtstag starb Marga. Am Tag nach der Beerdigung waren die Familienmitglieder in Margas Haus versammelt und fingen an, sich über ihren Nachlass zu streiten.

»Ich will die Teppiche und das Silberbesteck und den Schmuck«, schrie Hildegard.
»Nein, das hätte Vater nicht gewollt«, keifte Ilse zurück.
»Ein Drittel davon gehört mir«, stellte Rosemarie klar.

Es herrschte eine Stimmung wie unter Hyänen, die an einem erbeuteten Tier herum reißen. Ihre Ehegatten begannen hastig, die wertvollen erscheinenden Möbel auszuräumen. »Das Haus muss leer sein bis zum Verkauf«, sagten sie.

Die Enkel durchsuchten währenddessen das alte Haus nach brauchbaren altertümlichen Kleidungsstücken, ansehnlichen Ölgemälden, Gebrauchsgegenständen aus den 70-er Jahren und nach Geld, von dem sie glaubten, die alte Marga habe es irgendwo versteckt. »Alte Leute deponieren manchmal große Summen an Orten, an denen es niemand vermutet«, sagte einer von ihnen, und seine rosa Gesichtsfarbe zeigte, dass ihn Jagdfieber gepackt hatte.

Der Urenkel saß derweil im Wohnzimmer vor dem Fernseher und aß alte Weihnachtskekse. Erst als jemand das Gerät ausschaltete und hinaus trug, begann er zu quengeln. Niemand beachtete ihn. Alle waren damit beschäftigt, wertvolle, interessante Dinge zu entdecken und möglichst unbemerkt von den übrigen Familienmitgliedern in ihren auf der Einfahrt geparkten Wagen zu verstauen.

Nach diesem Tag würden sie nie wieder in dieses Haus kommen. Die unbrauchbaren Reste des Hausstandes würde man einem Entrümpelungsunternehmen überlassen.

Margas Stieftöchter waren dabei, das Wohnzimmer zu durchforsten. Um das Fernsehgerät gab es Zank wie auch um das teure Porzellan, die Damasttischdecken, die Perserteppiche und die Zinnteller. Nicht, dass eine der Schwestern diese Dinge wirklich gebraucht hätte. Es ging ihnen ums Prinzip.

Schließlich nahmen sie sich den Serviertisch vor, klaubten eilig die Fotos ihrer Lieben herunter und stritten um die verstaubten Flaschen. Die angebrochenen Liköre in den halbvollen Glaskaraffen, deren Inhalt farbig schimmerte, wurden in die Küche getragen und über dem Ausguss geleert.

Als es um die noch verschlossenen Flaschen ging, erhob sich neuerliches Gezänk in einer Lautstärke, dass die Männer hinzu kamen und sich einzumischen begannen. Schließlich einigten sie sich darauf, dass jede Familie reihum eine Flasche wählen durfte, bis die Bar leer wäre. Zum Schluss blieb die Beerenauslese übrig. Die wollte niemand. Sie sei zu süß, sagten alle.

Am Ende des Tages als jeder glaubte, halbwegs auf seine Kosten gekommen zu sein und die Luft vom stundenlangen Kramen im großen, nun völlig verwüsteten Wohnzimmer staubig war, nur die Enkel noch nicht aufhören konnten, unter losen Dielenbrettern, in Kellerecken und in den stillgelegten Öfen nach Geld zu suchen, setzten sich Ilse, Hildegard, Rosemarie und ihre Männer an den großen altmodischen Esstisch und und seufzten erschöpft.

»Lasst uns noch einmal auf die alte Marga anstoßen«, schlug Rosemarie friedfertig vor. Aber es war nichts mehr da, außer der verschmähten Beerenauslese. »Sie hatte ja immer eine Schwäche für dieses süße Zeug«, sagte Ilse. »Ein Gläschen wird schon nichts schaden«, erwiderte Hildegard.

Der Wein wurde entkorkt, Gläser, die keiner hatte haben wollen, aus dem Küchenschrank herbeigeholt und dann stießen sie an. »Auf Marga und unsere Erbschaft«, sagte Rosemarie und alle lächelten.

Das Strychnin wirkte sofort. Als die Enkel enttäuscht und schmutzig vom Dachboden herabstiegen und es aufgaben, weiter nach Geld zu fahnden, lebte im Wohnzimmer niemand mehr.

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Autor: Kirstin Warschau

Bewertung des Redakteurs:
4


Vollkommener Friede ist der Friede des Selbst. Das allein ist Sein und Bewusstsein.


Ramana Maharshi