Der Star von Segringen · Johann Peter Hebel · Fabel
Selbst einem Star kann es nützlich sein, wenn er etwas gelernt hat, wie viel mehr einem Menschen!
Diese Geschichte trug sich im Dorf Segringen zu. Das ist ein kleines, respektables Dorf, und es liegt nicht irgendwo, sondern mitten in unserem Land.
In Segringen nun lebte ein Barbier, der allen Männern des Dorfes die Bärte abrasierte, den alten und den jungen, sobald ihnen die Haare am Kinn zu sprossen begannen. Dieser Barbier hatte einen Star und einen Lehrling, und der Lehrling gab dem Vogel Unterricht im Sprechen.
Der Star lernte nicht nur alle Wörter, die ihm sein Lehrmeister, der Lehrling, aufgab, sondern er ahmte zu guter Letzt auch nach, was er von seinem Herrn, dem Barbier, hörte. So konnte der Star fehlerlos sagen: »Ich bin der Barbier von Segringen.«
Sein Herr hatte sonst noch allerlei Redensarten, die er bei jeder Gelegenheit wiederholte, zum Beispiel: »so so lala« und »par compagnie«, das heißt, »in Gesellschaft mit anderen«, und der Barbier hielt diesen Ausdruck für sehr gebildet.
Manchmal sagte der Barbier auch »wie Gott will« und sehr oft »du Tolpatsch«. Mit diesem Namen rief er nämlich immer den Lehrjungen, wenn dieser ungeschickt und gedankenlos war, wie es bei jungen Menschen eben manchmal der Fall ist.
Alle diese Redensarten lernte nach und nach der Star auch.
Da der Barbier nicht nur die Männer des Dorfes rasierte, sondern auch Branntwein ausschenkte, traf sich bei ihm immer eine fröhliche Gesellschaft. Wenn die Gäste sich unterhielten, warf der Star ab und zu auch eines seiner Wörter mit ein, wie es gerade passte, als ob er Verstand hätte, und die Gäste hatten ihren Spaß an dem redenden Vogel.
Rief der Lehrjunge zum Beispiel: »Hans, was machst du?«, krächzte der Star: »Du Tolpatsch!«
Eines Tages, als dem Staren die geschnittenen Flügel nachgewachsen waren, sah er das Fenster offen stehen, und er sah, wie schön das Wetter draußen war, und husch — fort war er! Vielleicht dachte er: »Ich habe so viel gelernt, ich kann nun auch allein in der Welt weiterkommen.«
Er flog sodann auf ein Feld und mischte sich unter die anderen Vögel. Als sie aufflatterten, folgte er ihnen, denn vielleicht dachte er: »Sie kennen sich hier besser aus als ich.«
Unglücklicherweise aber flogen sie alle miteinander in das Netz eines Vogelfängers, und der Star sagte: »So Gott will!«
Nach einiger Zeit kam der Vogelfänger und nahm einen Vogel nach dem anderen behutsam aus dem Netz heraus. Er drehte ihnen die Hälse um und warf sie in das Gras. Als er seine mörderischen Finger wieder nach einem Gefangenen ausstreckte, schrie dieser Vogel plötzlich: »Ich bin der Barbier von Segringen!«
Der Vogelfänger hielt verdutzt inne, schaute einmal nach rechts und dann nach links, ob da nicht irgendwo der Barbier von Segringen aufgetaucht sei, und als er niemand sah, fühlte er sich einen Augenblick gar nicht wohl, denn es schien ihm nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Dann aber, als er sich von seinem Schreck erholt hatte, musste er so laut lachen, dass er kaum noch zum Atmen kam.
Er beugte sich über den Star und sagte: »Ei, Hans, hier hätte ich dich nicht gesucht! Wie kommst du in mein Netz?« Und der Star krächzte: »Par compagnie«, und das stimmte auch, denn er war mit dem ganzen Schwarm ins Netz geflattert.
Der Vogelsteller brachte sodann den Star zurück zu seinem Herrn und erhielt dafür auch eine gute Belohnung. Der Barbier hatte nun von da an noch mehr Gäste als früher, denn jeder wollte den merkwürdigen Hans sehen.
Lehre: Es passiert einem Star selten, dass er in Gesellschaft anderer in sein Unglück fliegt. Aber so mancher junge Mensch, der sich lieber herum treibt als daheim zu bleiben, ist schon »par compagnie«, das heißt in Gesellschaft anderer, ins Netz geraten und nicht mehr dabei heraus gekommen!
Der Star von Segringen · Johann Peter Hebel · Fabel
Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.
Albert Einstein