Der Schmetterling auf dem Berg · Fabel Multatuli · Leben
Ein Schmetterling schwebte hoch, hoch oben in der Luft. »Wie schön ist es hier oben!« rief er seinen Brüdern zu. »Kommt zu mir!«
Die anderen Schmetterlinge aber riefen zurück: »Dort oben bei dir gibt es keine Blüten, die uns Honig geben! Komm wieder zu uns zurück!«
Schon wollte der Schmetterling sich zu ihnen hinab senken, als er Rinder auf den Wiesen weiden sah, die mit ihren großen, plumpen Hufen achtlos Blumen und Schmetterlinge nieder traten.
Und er sah auf der Straße ein Eselsgespann vorbei fahren und sah, wie die Räder des Wagens und die Hufe des Esels so manchen sorglosen Schmetterling erfassten und töteten.
Der Schmetterling stieg daher noch höher hinauf und war für ein paar Augenblicke ratlos. »Dort hinunter«, sagte er zu sich, »will ich nicht, denn ich fürchte die Hufe der Tiere und die Räder der Karren. Aber ich kann meinen Hunger nur mit Honig aus Blüten stillen und hier oben am Himmel wachsen keine Blumen!«
Während er so zu sich sprach, trieb ihn der Wind in die Nähe eines Berges, der zu steil war für Esel, Rinder und Wagen. Zwischen den Steinen aber blühten viele Blumen, und sie dufteten genau so süß wie jene unten im Tal. Der Schmetterling flatterte nun von Blume zu Blume, sammelte eifrig Honig und beschloss für den Tag und die kommende Nacht, auf dem Berg zu bleiben.
Am nächsten Morgen aber schwebte er hinunter zu den Wiesen im Tal und rief seinen Brüdern und Schwestern zu, wie schön und sorglos das Leben hoch oben auf dem Berg sei. Aber keiner seiner Artgenossen achtete auf ihn.
So flog der Schmetterling wieder hinauf auf den Berg, blieb dort einsam aber zufrieden, wo die schönsten Blumen nur für ihn blühten, die kein Esel und kein Rind jemals nieder treten konnte.
Die anderen Schmetterling erfuhren niemals, dass dort oben auf dem Berg genauso viele und herrlich duftende Blumen blühten wie unten im Tal.
Der Schmetterling auf dem Berg · Fabel Multatuli · Leben
Der Schmetterling auf dem Berg · AVENTIN Storys
Der Schmetterling auf dem Berg – Fabel Multatuli - Leben - Ein Schmetterling schwebte hoch, hoch oben in der Luft. »Wie schön ist es hier«
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Autor: Multatuli
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Sich der Unbewusstheit des Lebens bewusst zu sein, ist die älteste Pflicht unserer menschlichen Intelligenz.
Fernando Pessoa