Der Schleier · Anekdote

Der Schleier · Anekdote · Johann Wolfgang von Goethe

Eine schöne Frau, die einen Ahnherrn außerordentlich liebte, besuchte ihn alle Montage auf seinem Sommerhaus, wo er die Nacht mit ihr zubrachte, indem er seine Frau glauben ließ, dass er diese Zeit bei einer Jagdpartie verbringe.

Zwei Jahre hatten sie sich so ununterbrochen auf diese Weise gesehen, als seine Frau einigen Verdacht schöpfte, sich eines Morgens nach dem Sommerhaus schlich und ihren Gemahl mit der Schönen in tiefem Schlaf antraf.

Sie hatte weder Mut noch Willen, sie aufzuwecken, nahm aber ihren Schleier vom Kopf und deckte ihn über die Füße der Schlafenden.

Als das Frauenzimmer erwachte und den Schleier erblickte, tat sie einen hellen Schrei, brach in laute Klage aus und jammerte, dass sie ihren Geliebten nicht mehr wiedersehen, ja dass sie sich ihm auf hundert Meilen nicht mehr nähern dürfe.

Sie verließ den Ahnherrn, nachdem sie ihm drei Geschenke, ein kleines Füllhorn, einen Ring und einen Becher, für seine drei rechtmäßigen Töchter verehrt und ihm die größte Sorgfalt für diese Gaben anbefohlen hatte.

Man hob diese Gegenstände sorgfältig auf, und die Abkömmlinge dieser drei Töchter glaubten die Ursache manches glücklichen Ereignisses in dem Besitz dieser Gabe zu finden.

Der Schleier · Anekdote · Johann Wolfgang von Goethe

Der Schleier · Anekdote · AVENTIN Storys

Der Schleier - Anekdote - Johann Wolfgang von Goethe - Eine schöne Frau, die einen Ahnherrn liebte, besuchte ihn alle Montage auf seinem Sommerhaus.

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Autor: Johann Wolfgang von Goethe

Bewertung des Redakteurs:
4

Liebe ist der am schwersten zu erreichende Bewusstseinszustand.

Raik Dalgas