Der Mäuserich

Der Mäuserich auf Brautschau · Marie de France · Fabel

Einst hielt sich ein junger Mäuseherr für schöner und klüger als seine ganze Verwandtschaft. Er beschloss daher, auf keinen Fall eine Mäusefrau zu heiraten, sondern nur die Tochter des mächtigsten Wesens auf der Erde zur Frau zu nehmen.

»Gewiss gibt es niemand, der stärker als die Sonne ist«, dachte der Mäuseherr, und so ging er zur Sonne und bat sie um ihre Tochter.

Aber die Sonne antwortete ihm: »Geh nur weiter, und du wirst jemand finden, der stärker ist als ich.«

»Wer könnte das sein?« staunte der Mäuserich.

»Die Wolke«, antwortete die Sonne. »Wenn mich die Wolke verhüllt, so nützt mir mein ganzes Licht nichts, und es bleibt düster auf der Erde.«

Der Mäuserich ging daher zur Wolke und sagte: »Da du so gewaltig bist, dass selbst die Sonne nur scheinen kann, wenn du sie nicht verhüllst, so bitte ich dich, gib mir deine Tochter zur Frau, denn ich will nur die Tochter des mächtigsten Wesens auf der Erde als meine Gattin heimführen.«

»Geh weiter«, riet ihm die Wolke, »denn es gibt jemand, der ist mächtiger als ich.«

Wieder staunte der Mäuserich. »Wer könnte das sein, starke Wolke?«

»Der Wind«, flüsterte die Wolke, »er nimmt mich mit seinen gewaltigen Armen und trägt mich, wohin er will.«

»Dann«, sagte der Mäuserich, »will ich zum Wind gehen.«

Der Mäuseherr ging also zum Wind. »Die Wolke hat mich belehrt«, sagte er, »dass du das gewaltigste Wesen auf der Erde bist. Du trägst sie, wohin zu willst, zerstörst und zerteilst sie ganz nach deinem Willen.«

Der Wind war gerade von einer Reise rund um die Erde zurückgekehrt. Er hatte die Meereswellen haushoch getürmt, er hatte die hohen Bäume des Waldes geschüttelt und ein paar davon entwurzelt, er hatte Dächer abgetragen und die Wäsche von den Leinen der Hausfrauen gerissen. 

Aber als er gerade am aller übermütigsten getobt hatte, war er auf einen alten Turm gestoßen, dem er beim besten Willen auch nicht das kleinste Steinchen aus der Mauer hatte entreißen können, so fest war dieser Turm gefügt.

»Du irrst dich!« brauste der Wind daher auf, als ihn der Mäuserich als den Mächtigsten der Erde bezeichnete.

»Hier erhältst du keine Frau! Sieh hinunter auf diesen alten Turm da. Er ist stärker als ich. Er stellt sich unbekümmert meiner Gewalt entgegen. Er wankt nicht und steht da, als ob es mich nicht gäbe.«

Der Mäuserich antwortete flink: »Von deiner Tochter will ich eh nichts mehr wissen. Ich muss die Tochter des mächtigsten Wesens erhalten, und das scheint mir dieser Turm zu sein.«

Er wandte sich also an den Turm und bat ihn um seine Tochter. Der Turm schaute ihn prüfend von oben bis unten an und ächzte dann: »Du bist fehlgegangen! Es gibt jemand, der stärker ist als ich, er wird mich noch zu Fall bringen, und ich bin machtlos gegen ihn.«

»Wer könnte das sein?« fragte der Mäuserich überaus erstaunt.

»Das ist«, antwortete der Turm, »die Maus!«

»Jetzt willst du mich wohl verspotten!« rief da der Mäuserich zornig.

»Keineswegs«, erwiderte der Turm ernst. »Tritt her zu mir und sieh selbst! Eine Maus hat unter mir ihr Nest eingerichtet. Mein Mauerwerk ist nicht stark genug, sie aufzuhalten. Sie gräbt sich unter mir weiter und frisst sich einfach durch mich hindurch, und ich, der große Turm, bin hilflos gegenüber dieser Maus.«

»Das sind schlimme Neuigkeiten«, sagte leicht verwirrt der Mäuserich. »Die Maus ist ja meine Verwandte und gehört zur gleichen Nagetierfamilie!«

Und der Mäuserich wurde außerordentlich traurig und niedergeschlagen, als er sah, dass ihn seine Suche schließlich zurück in den Kreis seiner Familie geführt hatte.

»Ich wollte einfach nur höher steigen, und nun muss ich zu meiner Art zurückkehren«, sagte er betrübt.

»Das ist dein Schicksal«, antwortete der Turm und fuhr tröstend fort: »Geh heim und lerne, jene nicht zu verachten, zu denen du gehörst! Du wirst nie eine Frau finden, die besser zu dir passt als eine kleine Maus!«

Der Mäuserich auf Brautschau · Marie de France · Fabel

Über etwas Unvollkommenes schlechte Laune zu entwicklen und nur mürrisch darüber zu grübeln, hindert die schlechten Dinge nicht daran wieder zu passieren. Vielmehr hindert es dich daran Verbesserungen zu entwickeln und sich über schöne Dinge zu freuen.

Aventin