Der Junge im Boot

Der Junge im Boot · Bernd Saal · Einsamkeit und Traurigkeit

Es war einmal ein ganz normaler Junge, der in einer ganz normalen Stadt aufwuchs. Dort gab es eine Schule und ein Rathaus, eine Kirche, einen Bäcker, einen Metzger und sogar einen Supermarkt.

Der Junge wuchs auf, ging zur Schule, spielte am Nachmittag, machte seine Hausaufgaben — jeder Tag ging so vorüber und ein Tag glich dem anderen.

Doch eines Tages merkte der Junge, dass er seine Freunde verloren hatte. Sie hatten alle keine Zeit mehr für ihn. Sie waren mit so vielem anderen beschäftigt, dass niemand mehr mit ihm auf der Straße Fußball spielen wollte.

Keiner hatte die Zeit, am Fluss entlang zu streifen oder im Herbst Drachen steigen zu lassen. Der Junge war immer öfter allein und saß mit seinem Ball auf einer Bank im Park.

Seine Freunde hatten deshalb keine Zeit mehr für ihn, weil sie nach der Schule ihre neuen Computerspiele ausprobierten. Jeder saß dann in seinem Zimmer und spielte gegen andere, die auch in ihrem Zimmer saßen, irgendwo auf der Welt.

Der Junge kam sich ganz sonderbar vor und dachte: »Ich gehöre sicher einer anderen Welt an.« Und weil er so dachte, stand er eines Tages von seiner Bank auf und ging davon. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, verließ die Stadt und suchte die Welt, zu der er wohl gehören würde. Dort hätten die Menschen bestimmt Zeit für ihn — das wusste er.

Als seine Eltern abends nach Hause kamen, da vermissten sie ihren Sohn zwar, aber sie dachten sich, er sei bei seinen Freunden und setzten sich erst einmal vor den Fernseher. Doch als es spät und später wurde, bekamen sie es doch mit der Angst zu tun und begannen, seine Freunde anzurufen. Aber die wussten auch nichts von ihm, sie hatten den Jungen schon lange nicht mehr gesehen.

Der Junge aber ging fort, mit den Händen in der Hosentasche. Er ging durch Wälder, Dörfer und Städte. Er überquerte Flüsse und kam bis ans Meer. Dort wurde ihm seine Einsamkeit erst richtig bewusst. Grau lag das Meer da, unüberwindlich und kalt.

Der Junge weinte und suchte Schutz in den dürren Gräsern der Dünen. »Morgen gehe ich zurück«, sagte er sich. »Ich finde die Welt nicht, zu der ich gehöre.«

Doch als der Mond aufging und er übers Meer blickte, da sah er einen goldenen Schimmer auf den Wogen tanzen. Ein goldenes Boot kam auf ihn zu. Ein Kind saß darin und winkte ihm zu. Der Junge stieg ins goldene Boot und fuhr mit hinaus aufs Meer.

Dort draußen deutete das Kind dann aufs Meer und sagte zu dem Jungen: »Das ist deine Welt. Sie ist einsam und leer und voller Traurigkeit. Du kannst darin nicht leben. Niemand kann in einer solchen Welt leben. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Ich möchte dir etwas zeigen. Doch damit ich das tun kann, musst du auch etwas tun. Du musst dich umdrehen und zurückschauen.«

Der Junge zögerte. Das Boot schwankte und er hatte Angst, dass er über Bord fallen könnte, wenn er sich jetzt umdrehte. Aber das Kind nickte ihm freundlich zu und so stand er tapfer auf, drehte sich um und blickte zurück.

»Aber ich sehe ja nichts«, wollte er gerade ausrufen, als er einen hellen Lichtschein bemerkte. Immer heller wurde das Licht und der Junge erkannte, dass der Strand jetzt direkt vor ihm lag: Warm war er und weiß glänzte er — und er war voller Menschen!

Direkt vor ihm standen seine Eltern und winkten ihm zu. Sie waren noch in der Nacht aufgebrochen und hatten ihn gesucht. Auch seine Freunde waren da, mit ihren Eltern.

Stundenlang hatten sie in der Kälte nach ihm Ausschau gehalten, bis sie ihn endlich entdeckten — im Park auf der Bank, den Anorak über den Kopf gezogen und den Ball in der Hand. Der Junge hatte sein ganzes Abenteuer nur geträumt. Er war eingeschlafen, vor Kälte und vor Müdigkeit. Hätten seine Eltern, seine Freunde und deren Eltern ihn nicht gesucht — er wäre vor Kälte gestorben.

Diese Nacht veränderte die ganze Stadt, denn jeder nahm Anteil an der Geschichte des Jungen und an seiner Einsamkeit. In dieser Nacht begannen die Menschen zu begreifen, was Glück wirklich bedeutet: dass niemand in dieser Welt einsam sein muss und dass man die Einsamkeit überwindet, indem man zurückschaut und wirklich zu sehen beginnt.

Es ist nicht immer wahr, dass Menschen nur an sich selbst denken. Sie können sehr wohl auch freundlich, hilfsbereit und liebevoll sein. Man muss ihnen nur manchmal die Gelegenheit dazu geben.

Der Junge im Boot · Bernd Saal · Einsamkeit und Traurigkeit

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Autor: Bernd Saal

Bewertung des Redakteurs:
5

Die Vernunft ist die höchste Vereinigung des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel