Der Ausweis · Kurt Tucholsky

Der Ausweis · Kurt Tucholsky · Vom Mittelpunkt der Welt · Satire

Wenn man in Deutschland mal irgendwo hingehen muss, braucht man einen Ausweis. Es gibt in diesem Land wahrscheinlich überhaupt kein öffentliches Haus und keinen Raum, für die man nicht einen Ausweis braucht, außer bestimmte Örtchen.

Der Vorgang ist immer derselbe: Den ahnungslosen Bürger überfällt ein barscher Mann oder eine dominante Frau, knurrt ärgerlich: »Ausweis?« weist die Leute ohne den Fetzen Papier wieder zurück und lässt die Leute mit dem Fetzen Papier ins gelobte Land. Wo bekommst du einen Ausweis her?

Um einen Ausweis zu bekommen – manchmal heißt der Ausweis auch Reisepass oder Anmeldeschein oder Passierkarte oder Personalausweis – um einen Ausweis zu bekommen, musst du in Deutschland in ein Büro gehen. In dem Büro sitzt ein Mann oder auch eine Frau beim Frühstück.

Du klopfst vorsichtig an, gehst leise hinein (dass du dir nicht die Schuhe vor der Tür ausziehst, liegt nur daran, dass du noch nicht genügend Ausländer bist), siehst dich unendlich ehrfurchtsvoll im Heiligtum um und wagst endlich, den Mund aufzumachen: »Guten Tag!«

Nichts – der oder die Beamte/in klappt seine/ihre Stulle auf. Käse. Mutter hätte auch …

Der oder die Beamte/in ist ärgerlich. Du sagst nichts. Eine dicke Fliege stößt sich den Kopf an der Fensterscheibe. Nach einer langen Weile bekommst du eine revolutionäre Wallung und machst: »Rhm!«

Gar nichts passiert.

Nach einer längeren Weile wendet der oder die Käsemann/frau den Kopf, sieht dich, der du ärgerlich hinter der Schranke aufgebaut stehst, vorwurfsvoll an und hebt den Kopf mit einem Geräusch, das ungefähr »He« heißen kann.

Du sagst deinen Vers auf. Du wolltest, sagen wir, nach XY fahren und einen ausgestopften Bernhardiner mitnehmen und deine alte Tante besuchen, und du brauchst dazu eine Ausfuhrbewilligung und eine Einreiseerlaubnis und einen, Herrgottnichtnochmal, einen Ausweis.

Die Tragödie beginnt.

Der oder die Käsemann/frau macht dir soviel Schwierigkeiten, bis dir die Lust vergeht, in deinem ganzen Leben je noch einmal nach XY zu fahren, bis deine alte Tante und der ausgestopfte Bernhardiner gänzlich von den Motten zerfressen sind.

Du hattest dir das alles so einfach gedacht – aber der Mann oder die Frau belehrt dich eines besseren. Ungeheuerer Kummer türmt sich vor dir auf: Denn welchen Zweck hätte sonst das Dasein des Mannes oder der Frau hinter der Schranke, wenn er oder sie dir keinen Kummer machen könnte? Nach unendlichem Gewürge bekommst du dann endlich doch einen Ausweis.

Das ist keine parteipolitische Frage, die mit dem Ausweis. Wenn das einmal aus den eingebildeten Köpfen heraus ginge, dass jedes kleine Murksamt sich einbildet, der Mittelpunkt der Welt zu sein und sich des Weiteren einbildet, die Leute hätten alle nichts anderes zu tun, als diese albernen Formalitäten zu erfüllen! – Wenn das einmal aus den Köpfen heraus ginge!

Jeder, des dies liest, nickt vielleicht mit dem Kopf und lächelt und sagt: Ja. Recht hat er. Aber ob es deshalb einen Ausweis weniger geben wird? Jeder hält alle Ausweise für überflüssig – nur den seinen nicht. Und munter schmiert die ganze Gesellschaft, statt zu arbeiten, weiter Formulare und stellt Anträge und alle Einrichtungen wissen, wo, wann und wie lange du überall bist und warst!

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Der Ausweis · Kurt Tucholsky · Vom Mittelpunkt der Welt · Wenn man in Deutschland mal irgendwo hingehen muss, braucht man einen Ausweis

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Autor: Kurt Tucholsky

Bewertung des Redakteurs:
4

Wähle irgendeine Routinetätigkeit aus und versuche die Tätigkeit nicht als notwendige Pflicht, sondern als völlig neue Aktivität zu sehen. Wenn du z.B. Geschirr abspühlst, achte darauf, wie das Wasser ins Becken läuft, wie sich das Spülmittel mit dem Wasser vermischt und Blasen bildet und wie sich das Spühlmittel-Wasser auf deiner Haut anfühlt.

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