Der Arme und der Reiche

Der Arme und der Reiche · Maghreb Sage · Schicksal und Leben

Zu einem Dschiabur, einem reichen und mächtigen Mann, der über viele Güter und Menschen gebot, drang eines Tages ein Armer vor und warf sich ihm zu Füßen.

»Herr« flehte er, »ich bin arm und krank. Meine Frau ist krank, und meine Kinder recken die dürren Ärmchen nach Brot. Gib mir bitte ein Stück Silber, um meine Not zu lindern.«

Der Reiche hob lässig den Fuß, trat ihm mit dem silbernen Absatz seines Pantoffels in den Steiß und rief: »Hier hast du Silber!« Der Arme aber kam einige Tage später wieder.

»Herr!« jammerte er, »nun ist meine Frau gestorben. Die Kinder sind vor Hunger zu schwach, um sie zu beweinen. Ich selbst bin so von Kräften, dass ich mich nur mit Mühe zu dir schleppen konnte. Gib mir bitte ein Stück Kupfer, um meine Not zu lindern!«

Der Reiche griff zum Kohlenbecken, das von lauterem Kupfer war, schlug es ihm um die Ohren und sprach dazu: «Da hast du Kupfer!« Sodann befahl er seinen Dienern, den Armen über die Straße in den Graben zu werfen. Dort lag der Arme ein paar Tage lang.

Endlich kroch er nochmals vor den Reichen. »Aman! Erbarmen!« winselte er, »nun sind gewiss auch meine Kinder allesamt gestorben. Gibst du mir jetzt nichts, so werde ich vor deinem Haus liegenbleiben, deinem Geiz zur öffentlichen Schande. Gib mir ein Stück Brot, dass ich Kraft genug finde, mich von deiner Schwelle fortzubewegen.«

Da bückte sich der Dshiabur, hob einen Stein vom Boden auf und drückte ihn dem Armen in die Hand. »Da!« sagte er, »bist du arm, so friss dieses!« Der Arme nahm den Stein, richtete sich auf und ging. Er stellte sich vor das Haus des Reichen, wog den Stein in seiner Hand und wartete.

Und er wartete bei Tag und bei Nacht, in der Hitze des Sommers und im Schnee des Winters. Er wartete und wog den Stein in seiner Hand. Und nachdem er zehn Jahre lang so gewartet hatte, geschah es, dass der Reiche Macht und Gut verlor. Bestechungen und Unterlassungen wurden ruchbar, und man schleifte ihn vor Gericht.

Draußen, vor dem Gerichtsgebäude, hatte sich bereits eine große Menge Menschen versammelt und diese warteten nun auf die Verkündung des Urteils. Unter ihnen stand an erster Stelle auch der Arme, seinen Stein immer noch in der Hand haltend.

Da öffneten sich die Tore des Gerichtsgebäudes, und der Dschiabur, der einstmals reiche und mächtige Mann, wurde herausgeführt, in Ketten, all seiner Macht entkleidet. Der Arme sah ihn an und wog bedächtig den Stein in seiner Hand. Dann aber warf er ihn beiseite zum Schotter der Straße.

Als ihn seine Freunde bestürmten und ihn fragten, warum er denn so gehandelt habe, erwiderte er: »Ich habe diesen Stein zehn Jahre lang in meiner Hand gewogen, um ihn einem Mächtigen und Reichen ins Gesicht zu werfen. Und was ist hier herausgekommen? — Ein armes Schwein!«

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Autor: Maghreb Sage

Bewertung des Redakteurs:
4

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Marcus Aurelius