05 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle
Jonathan kreiste langsam über den fernen Klippen und sah aufmerksam in die Höhe. Dieser widerborstige junge Fletcher war ein Flugschüler, wie man ihn sich besser nicht wünschen konnte.
Er war leicht und kräftig und flink in der Luft, aber weit wichtiger war, dass er nichts sehnlicher wünschte, als richtig fliegen zu lernen. Da tauchte er auf, ein verwischter grauer Fleck im sausenden Sturzflug. Er schoss an seinem Lehrer vorbei, zog dann unvermittelt wieder hoch zu einem neuen Versuch mit einer vertikalen langsamen Rolle mit sechzehn Umdrehungen.
Er zählte die Umdrehungen laut mit. »acht.. .neun.. .zehn.. Jonathan, Jonathan, die Geschwindigkeit reicht nicht aus… elf… ich will kurze scharfe Stopps wie du… zwölf … verdammt-ich krieg es nicht hin.. .dreizehn.. .noch.. .dreizehn… vierzehn.. .aaakk!«
Die letzte Drehung schlug durch seinen Ärger und seine Wut über das Versagen völlig fehl. Fletcher kippte nach hinten um, taumelte, trudelte, warf sich wutentbrannt in einen einwärts drehenden Kreisel-Flug und fing sich endlich krächzend einige hundert Meter unterhalb von seinem Lehrer ab.
»Du vergeudest deine Zeit mit mir, Jonathan! Ich bin zu dumm! Ich bin ein Idiot! So oft ich es auch probiere, ich kriege es nicht hin!«
Jonathan blickte zu ihm hinab und nickte.
»Du wirst es bestimmt nicht schaffen, so lange du so hart hochziehst. Du verlierst zu viel Geschwindigkeit, bevor du die Rolle beginnst. Du musst weicher sein, Fletcher! Energisch, aber nicht krampfhaft! Denk daran!«
Er senkte sich zu der jungen Möwe hinab.
»Versuchen wir es gemeinsam, in Formation. Achte genau auf das Hochziehen. Man muss weich und leicht hineingehen.«
Drei Monate waren vergangen. Jonathan hatte inzwischen sechs weitere Schüler, lauter Außenseiter, die aus Freude am Fliegen neugierig waren auf die seltsamen neuen Ideen. Freilich war es für sie leichter, die hohe Kunst zu erlernen, als die Idee zu erfassen, die dahinter stand.
»In jeder einzelnen von uns ist in Wahrheit das Ideal der Großen Möwe, die unbegrenzte Idee der Freiheit«, erklärte Jonathan ihnen abends auf dem Strand wieder und wieder.
»Der Präzisionsflug ist nur ein Schritt weiter in der Darstellung unserer wahren Natur. Wir müssen alle Begrenzung hinter uns lassen. Deshalb üben wir Spitzengeschwindigkeiten, Langsamflug und Flugakrobatik…« .. .und seine Schüler schliefen dabei ein, erschöpft vom Tagespensum.
Sie liebten ihre Übungsstunden, die aufregenden Geschwindigkeiten, die ihren Hunger nach mehr Können von Stunde zu Stunde erhöhten. Aber nicht einer von ihnen konnte glauben, dass der Gedankenflug ebenso Reales sei wie die Bewegung ihrer Schwingen, die sie durch die Lüfte trugen.
»Der ganze Körper ist von einer Flügelspitze zur anderen nichts anderes als Gedanke« sagte Jonathan.
»Geist in sichtbarer Gestalt. Durchbrecht die Beschränktheit eures Denkens, und ihr zerbrecht damit auch die Fesseln des Körpers…«
Aber was er ihnen auch sagte, es klang nur wie wunderschöne Fantasien, die sie angenehm einschläferten.
Nach einem Monat erklärte Jonathan, die Zeit sei reif, um zum Schwarm zurückzukehren.
»Wir sind noch nicht so weit!« sagte die Möwe Henry. »Man will uns da nicht haben. Wir sind ausgestoßen. Wir wollen uns nicht aufdrängen, wo man uns nicht haben will«
»Wir sind frei, wir können fliegen, wohin wir wollen, und sein, was wir sind«, erwiderte Jonathan. Er hob sich vom Sand ab und wandte sich gen Osten zu den Heimatgründen des Schwarmes.
Seine Schüler zauderten. Die Gesetze des Schwarmes erlauben keinem Verbannten jemals die Heimkehr, und noch nie hatte einer sie zu brechen gewagt. Das Gesetz befahl ihnen, zu bleiben. Doch Jonathan gebot ihnen heim zu fliegen.
Er hatte schon eine große Strecke zurückgelegt; wenn sie noch länger zögerten, würde er allein bei dem feindlich gesinnten Schwarm eintreffen.
Fletcher Lynd meinte betont selbstsicher: »Eigentlich brauchen wir dem Gesetz gar nicht zu gehorchen, schließlich gehören wir dem Schwarm ja gar nicht mehr an.«
»Und wenn es zu einem Kampf kommt, müssen wir Jonathan dort helfen.«
Und so flogen sie denn an jenem Morgen von Westen her ein, acht Möwen in einer doppelten Formation; die Flügelspitzen überlagerten einander fast. Pfeilschnell überflogen sie den Versammlungsplatz des Schwarms. Jonathan hielt die Spitze.
Fletcher glitt leicht an seinem rechten Flügel dahin, und Henry hielt sich tapfer an seinem linken Flügel. Dann rollte die geschlossene Formation wie ein einziger Vogel langsam rechts ab.. .zog gerade.. .drehte nochmals.. .und wieder gerade. Und der Wind peitschte über sie hinweg.
Das alltägliche Gekrächze und Gekrakel des Schwarms verstummte wie abgeschnitten, als ob die Formation ein Riesenmesser wäre. Viertausend Augenpaare starrten ohne zu Bunkern zu ihnen empor.
Die acht weißen Vögel zogen nun einer nach dem anderen im steilen Winkel hoch zum Überschlag in ein volles Looping, schwebten durch eine vollkommene Kreisbahn und setzten alle exakt gleichzeitig in eine unglaublich langsamen Landung auf dem Sand auf. Als sei das alles etwas ganz Alltägliches, begann Jonathan ihre Flugleistung zu analysieren.
»Erstens«, sagte er trocken, »seid ihr alle beim Aufschließen etwas zu spät dran gewesen.«
Der Schwarm war wie vom Blitz getroffen. Das sind die ausgestoßenen Vögel. Sie kommen einfach zurück. Das kann es doch nicht geben. Der Schwarm war völlig verwirrt und wie erstarrt. Fletchers Kampfansage bewahrheitete sich nicht.
Ein paar jüngere Möwen krächzten: »Und wenn es zehnmal die Verbannten sind, wo haben die so fliegen gelernt?«
Es dauerte fast eine Stunde, bis der Befehl des Ältesten sich im ganzen Schwarm herumgesprochen hatte: Ignorieren! Jede Möwe, die mit einem Verbannten redet, wird ausgestoßen. Jede Möwe, die einen Verbannten auch nur ansieht, bricht das Gesetz des Schwarms.
Immer mehr Möwen wandten ihre grau gefiederten Rücken Jonathan zu, aber er beachtete das gar nicht und hielt seine Übungsstunde direkt über dem Versammlungsplatz der Möwen ab. Er holte aus seinen Schülern das Äußerste heraus, trieb sie bis an die Grenze ihrer Kräfte.
»Möwe Martin, du glaubst, du beherrschst den Langsamflug? Beweis es. Los. Fliegen.«
Der schüchterne kleine Vogel Martin war tief erschrocken, dass er so in das Schussfeld seines Mentors geraten war Er musste allen Mut zusammenreißen und wurde zu seiner eigenen Überraschung ein wahrer Hexenmeister im Langsamflug.
Selbst in leisester Brise vermochte er die Schwingfedern so zu stellen, dass er sich ohne einen Flügelschlag vom Sand emporhob und hoch zu den Wolken hinauf segelte und wieder zurück.
Auch die Möwe Charles schwebte auf dem Großen Bergwind so hoch hinauf, dass sie zitternd vor Kälte, überrascht von der eigenen Leistung und überglücklich herunterkam, fest entschlossen, morgen noch höher hinaufzusteigen. Fletcher liebte vor allem die Flugakrobatik.
Auch er überbot mit sechzehn Umdrehungen beim Langsamrollen in der Vertikale seinen eignen Rekord. Am folgenden Tag schloss er sogar noch mit einem dreifachen Radschlag ab, wie ein blendender weißer Sonnenstrahl kreiste er über dem Strand, von dem ihn mehr als ein Augenpaar verstohlen beobachtete.
Jonathan war ständig bei seinen Schülern, demonstrierend, beschwörend, antreibend, leitend. Aus Sport flog er mit ihnen durch Nacht und Wolken und Stürme, während sich die Möwen des Schwarms armselig auf dem Erdboden aneinander drängten. Nach den Flugstunden ruhten sich die Schüler mit ihrem Lehrer immer auf dem Strand aus, und allmählich hörten sie doch zu, wenn er ihnen seine Ideen entwickelte.
Einige klangen ziemlich verrückt, sie verstanden sie nicht, einige aber begriffen sie schon. Mit der Zeit bildete sich nachts ein zweiter Kreis um den Ring der Schüler, ein Kreis aus neugierigen jungen Möwen, die im Schutz der Dunkelheit stundenlang zuhörten. Sie wollten nicht gesehen werden und selbst niemanden sehen und schlichen sich vor Morgengrauen verstohlen wieder davon.
Und eines Tages überschritt die erste Möwe aus dem Schwarm die Grenzlinie zum inneren Ring und bat um Aufnahme in die Lehrstunde. Dadurch gehörte nun auch die Möwe Terrence zu den Verbannten unter den Vögeln, war behaftet mit dem Makel des Ausgestoßenen und wurde gleichzeitig der achte Schüler Jonathans.
Eine kranke Möwe gab es im Schwarm, sie hieß Kirk Maynard. Sie watschelte in der folgenden Nacht mit hängendem linken Flügel über den Sand heran und plumpste vor Jonathan in den Sand.
»Hilf mir«, krächzte sie matt wie ein Sterbender. »Ich wünsche nichts in der Welt so sehr, wie fliegen zu können…«
»Dann komm« sagte Jonathan. »Steig mit mir vom Boden auf, fangen wir an«
»Du hast mich nicht verstanden. Mein Flügel. Er ist gelähmt.«
»Möwe Maynard, du bist frei. Sei, was du bist, entfalte dein wahres Selbst — jetzt und hier, und nichts kann dir im Wege stehen. So will es das Gesetz der Großen Möwe, das Gesetz des Seins.«
»Willst du sagen, dass ich fliegen kann?«
»Ich sage, du bist frei.«
Und Kirk Maynard breitete die Flügel aus, ganz einfach und rasch und erhob sich mühelos in die dunkle Nachtluft. Sein Jubel riss den Schwarm aus dem Schlaf. Aus großer Höhe erklang sein machtvoller Schrei:
»Ich kann fliegen! Hört, ich kann fliegen!«
Bei Sonnenaufgang standen fast tausend Vögel um den Ring der Schüler und starrten Kirk Maynard neugierig an. Sie achteten nicht mehr darauf, ob man sie dabei sah oder nicht, sie hörten dem Unterricht zu und suchten zu verstehen.
Jonathan sprach von einfachen Dingen … dass Möwen zum Fliegen da sind, dass die wahre Natur ihres Wesens Freiheit ist und dass sie alles, was dieser Freiheit im Wege steht, abtun müssen, Sitten und Bräuche und jegliche Beschränkung.
»Was heißt abtun?« erklang eine Stimme aus dem Schwarm. »Sollen wir das Gesetz des Schwarmes nicht achten?«
»Es gibt nur ein wahres Gesetz, das in die Freiheit führt«, sagte Jonathan. »Es gibt kein anderes.«
»Wie kannst du erwarten, dass wir so fliegen wie du?« fragte eine andere Stimme. »Du bist ein Auserwählter, ein Begabter, ein Göttlicher, hoch über allen anderen Vögeln.«
»Seht Fletcher an. Lowell. Charles. Sind sie alle auserwählt, begabt und göttlich? Sie sind nicht anders als ihr, nicht anders als ich. Der einzige Unterschied ist, dass sie ihre eigentliche Natur zu erkennen beginnen und angefangen haben, danach zu handeln.«
Die Schüler trippelten unbehaglich hin und her, nur Fletcher nicht. Es war ihnen noch gar nicht bewusst geworden, was sie eigentlich unternommen hatten. Die Menge wurde täglich größer, stellte Fragen, bewunderte, beschimpfte.
»Im Schwarm behaupten sie« erzählte Fletcher seinem Lehrer nach einer Lehrstunde im Geschwindflug für Fortgeschrittene, »wenn du nicht göttlicher Herkunft bist, dann bist du zumindest deiner Zeit um Jahrtausende voraus.«
Jonathan seufzte. Das ist der Preis, dachte er, man wird missverstanden, wird für einen Teufel gehalten oder für einen Gott.
»Und was denkst du. Fletcher — sind wir unserer Zeit voraus?«
Langes Schweigen … endlich kam die Antwort.
»Die Kunst des Fliegens ist real und jederzeit für jeden erlernbar, dem der Sinn danach steht; das hat nichts mit der Zeit zu tun. Wir sind den anderen vielleicht weit voraus in der Form und in der Art des Fliegens.«
»Das klingt schon besser« sagte Jonathan und zog schwebend und glänzend seine Kreise. »Das hast du nicht schlecht ausgedrückt!«
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Autor: Richard Bach
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Die Frage ist nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Die Frage ist, ob du vor dem Tod lebendig bist.
Osho